Ältere Menschen mit Mehrfacherkrankungen wünschen sich, dass ihr Hausarzt sie auch über ihre spirituellen Ressourcen und Bedürfnisse befragt. Wenn solche Gespräche geführt werden, wird das gegenseitige Vertrauen gestärkt und die Arzt-Patient-Beziehung verbessert. Das ist eines der Ergebnisse der deutschen HoPES3-Studie (Holistic Care Program for Elderly Patients to Integrate Spiritual Needs, Social Activity and Self-Care into Disease Mangement in Primary Care). Fast alle Patienten empfahlen, ein persönliches Gespräch über Spiritualität in die Primärversorgung zu integrieren.
Ziel der HoPES3-Studie, die von Juni 2018 bis Juli 2020 in Hausarztpraxen im Raum Heidelberg und Tübingen durchgeführt wurde, war es, die hausärztliche Betreuung von chronisch kranken Patienten über 70 Jahren zu verbessern. Drei Aspekte, die erwiesenermaßen für das Wohlergehen von älteren Menschen wichtig sind, waren dabei im Fokus: Spiritualität, soziale Kontakte und Selbstfürsorge.
Für die „Spirituelle Anamnese“ erhielten die Hausärzte vorab eine fünfstündige Schulung im Gesprächsmodell SPIR (S=Spiritualität; P=Platz im Leben des spirituellen Backgrounds, I=Integration in eine Gemeinschaft/Gruppe; R=Rolle und Erwartungen an den Arzt in Bezug auf die Spiritualität des Patienten). Das Gespräch dauerte im Schnitt 20 Minuten. Der Freiwilligkeitsaspekt wurde unterstrichen, was den Patienten wichtig war, so die Autoren der im International Journal of Environmental Research and Public Health publizierten Studie (2022, 19, 538. https://doi.org/10.3390/ ijerph19010538). An der Interventionsstudie unter der Leitung von Ruth Mächler, Professorin für Spiritual Care und psychosomatische Gesundheit (Klinik und Poliklinik für psychosomatische Medizin und Psychotherapie, TU München) nahmen 24 Praxen und 297 Patienten teil.
Die Patienten erklärten dem Hausarzt ihre aktuelle Situation vor allem anhand von bedeutsamen und schwierigen Ereignissen in ihrer Lebensgeschichte. Dazu zählte beispielsweise der Tod des Partners, eines Kindes oder von Geschwistern, aber auch Scheidung oder Zerwürfnisse mit nahen Angehörigen. Thematisiert wurden zudem die persönlichen Kraftquellen – genannt wurden familliäre Beziehungen, Freundschaften und Natur, aber auch Hobbies – sowie Religion und Glaube. Für einige Befragte waren ihre religiösen Überzeugungen und Erfahrungen sehr wichtige Quellen der Kraft und Hoffnung, hinsichtlich der Erfahrung mit religiösen Einrichtungen war das Verhältnis ambivalent.
Im Zusammenhang mit Krankheit brauchen Themen von Spiritualität und Religion in Zukunft "viel mehr Aufmerksamkeit", die "Pandemie hat die Menschen vor eine Reihe existenzieller Fragen gestellt." Darauf wies kürzlich der US-Public Health-Experte Howard K. Koh hin (vgl. Medscape Medical News, 21.3.2022).
Er ist Autor zahlreicher Studien zu Religion und Spiritualität in der Medizin und war stv. Gesundheitsminister in der Obama-Regierung. Jeder Patient, so Koh, fühle sich „im Gesundheitssystem völlig entmenschlicht“, wenn sich „der Arzt nur auf seine Krankheit und nicht auf ihn konzentriert“, so der Professor für Practice of Public Health Leadership an der Harvard T.H. Chan School of Public Health und Harvard Kennedy School in Boston.
Der Co-Direktor der fakultätsübergreifende "Initiative für Gesundheit, Spiritualität und Religion" an der Harvard University betont, dass Ärzte einen Patienten „nicht wie ein uninteressantes Anhängsel einer interessanten Krankheit“ behandeln dürfen. Es sei die Verpflichtung des Arztes, sich auch um die Seele seiner Patienten zu kümmern, „um ihre Sorgen darüber, wer sie sind und wie sich die Krankheit auf ihr Wohlbefinden im weitesten Sinne auswirken wird“, betont Koh.