Kanada hat im Jahr 2016 aktive Sterbehilfe (Medical Assistence in Dying, MAID) legalisiert. Nun legt erstmals der offizielle MAID-Jahresbericht Zahlen, Motive und Entwicklungen offen. Die Ergebnisse sind erschreckend: Zwischen 2016 und 2019 hat sich die Zahl der Personen, die Beihilfe zum Suizid und Tötung auf Verlangen in Anspruch nahmen verfünffacht: von 1.015 Fällen (2016) auf 5.631 (2019). Insgesamt gehen inzwischen 2 Prozent aller Todesfälle des 37,8 Millionen Einwohner zählenden Landes auf aktive Sterbehilfe zurück.
Laut MAID-Report 2019 begründeten die Betroffenen ihre Entscheidung, ihr Leben vorzeitig zu beenden, damit, dass sie sich nicht mehr an sinnvollen Lebensaktivitäten beteiligen können (82,1%), dicht gefolgt vom Verlust der Fähigkeit, Aktivitäten des täglichen Lebens auszuführen (78,1%). 13,7 Prozent der Kanadier gaben zudem „Einsamkeit“ als Grund für aktive Sterbehilfe an, 34 Prozent fühlten sich als „Last“ für Familie, Angehörige und Pflegende. Das Durchschnittsalter zum Tötungszeitpunkt war 75 Jahre, mehr als 80 Prozent der Betroffenen waren über 65 Jahre alt.
Die Sorge unter Palliativmedizinern angesichts der Entwicklung in Kanada ist groß: In einem im Journal of The World Medical Association publizierten Artikel (Nr. 2, April 2020, 28-38) sehen die Autoren die Vertrauensbeziehung zwischen Arzt und Patient aufgrund der MAID-Gesetze dauerhaft beschädigt. Als Palliativmediziner sei man immer wieder mit Sätzen von Patienten konfrontiert wie „Ich wünschte, das wäre endlich alles vorbei“. Dies sei ein Ausdruck von Trauer, Verlust und dem Innewerden der Endlichkeit, der nach Gesprächen, Trost und Zuwendung ruft. Wenn „ärztliche Hilfe“ zur Tötung immer mehr als gesellschaftlich normale Option angesehen wird, geraten Ärzte in Konflikt mit ihrem Ethos. Das Auseinanderklaffen von Wertehaltungen, Ansprüchen und gelebter Wirklichkeit führt bei den Beteiligten zu hohem moralischem Stress. Moral Distress gilt als ein Grund für Burnout, Arbeitsplatzwechsel oder Abwanderung in ein anderes Berufsfeld.
Experten vor allem aus dem Palliativ- und Hospizbereich hatten sich gegen eine Legalisierung der aktiven Sterbehilfe gewandt, nun werden aber auch sie gezwungen, mitzumachen. So wurden erst kürzlich der Delta Hospice Society öffentliche Gelder aberkannt, weil sie sich weigert, in ihren Häusern aktive Sterbehilfe durchführen zu lassen (vgl. Bioethik aktuell, 25.3.2020).
Im kanadischen Parlament liegt mit der Bill-C-7 ein weiterer Gesetzesantrag vor: Kinder, Minderjährige, psychisch und chronisch Kranke sollten ebenfalls aktive Sterbehilfe in Anspruch nehmen dürfen. Außerdem sollen Menschen, die für sich beschlossen haben, aus dem Leben zu scheiden, „ärztliche Hilfe“ bei ihrer Tötung innerhalb von 90 Tagen in Anspruch nehmen dürfen, auch wenn ihr natürlicher Tod nicht in absehbarer Zeit bevorsteht (vgl. Physicians’ Alliance against Euthanasia, 26.2.2020).
Damit geht Kanada ähnliche Wege wie die Niederlande. Die Parlamentarierin der niederländischen linksliberalen Partei Democracia66 und ehemalige TV-Moderatorin Pia Dijkstra hat ebenfalls einen Gesetzesvorschlag eingereicht, wonach aktive Sterbehilfe auch für Senioren ab 75 Jahre, die nicht krank sind, aber „genug vom Leben“ haben, erlaubt sein soll. Dijkstra hatte wegen der Corona-Krise zugewartet, berichtet die NL Times (online, 17.7.2020).
Die beiden Koalitionspartner CDA und ChristenUnie kritisieren das Vorhaben scharf. Die D66 reicht „in einer Zeit, in der sich ältere Menschen besonders verletzlich fühlen, einen Vorschlag ein, von dem wir wissen, dass er bei vielen älteren Menschen zu erhöhter Angst führen wird“, betont der ChristenUnie-Vorsitzende Gert-Jan Segers. Corona habe gezeigt, dass „echte Zuwendung und gute Pflege den Unterschied im Leben“ ausmachten. Der CDA-Abgeordnete Harry van der Molen betont, dass der Kampf gegen die Einsamkeit ernster genommen werden müsse: Wenn sich Menschen allein, verlassen oder verloren fühlen, brauchen sie Betreuung und Pflege, aber keine aktive Sterbehilfe.