Die Kanadierin Tracey Thompsen (50) leidet an Long-COVID und ist arbeitsunfähig. Seit zwei Jahren muss die ehemalige Köchin mit chronischer Erschöpfung und anderen schwerwiegenden Symptomen kämpfen. Ihren Alltag kann sie kaum bewältigen. Deshalb hat sie nun aktive Sterbehilfe beantragt. Als Gründe gibt sie an, dass ihre Ersparnisse nur noch für fünf Monate ausreichen würden. Sterben wolle sie eigentlich nicht, doch die Aussichtslosigkeit ihrer Situation und mangelnde finanzielle Unterstützung hätten sie dazu gebracht (vgl. CTV-News, 12.7.2022).
Schockiert zeigte sich die Öffentlichkeit, dass das staatliche Sterbehilfe-Programm "Medical Assistance in Dying" (MAID) als Alternative für Therapien nahegelegt wird. So wurde kürzlich einem kanadischen Kriegsveteranen, der an einer posttraumatischen Belastungsstörung und einer Gehirnverletzung leidet, angeboten, statt einer Therapie einen Euthanasie-Antrag zu stellen – ohne, dass er zuvor Todeswünsche geäußert hatte (vgl. Global News 17.8.2022).
In den ersten drei Jahren sind die Zahlen ständig gestiegen – ein Erfolg?
Dass das MAID-Programm als solches bereits etabliert ist und offenbar einen gesellschaftlichen Sog-Effekt ausgelöst hat, ergibt sich aus neuen Zahlen. Allein im Jahr 2021 starben in Kanada 10.064 Menschen durch Tötung auf Verlangen, wie das kanadische Gesundheitsministerium im aktuellen MAID-Annual Report 2021(Juli 2022) mitteilt. Damit ist ein Höchststand erreicht.
Das 37,6 Millionen Einwohner zählende Kanada hatte im Juni 2016 aktive Sterbehilfe und Suizidassistenz legalisiert. Seit 2016 hat sich die Zahl der Euthanasie-Fälle verzehnfacht. Seit 2021 ist eine lebensbedrohliche Erkrankung nicht mehr als Voraussetzung nötig. Auch Menschen mit chronischen Erkrankungen und Behinderung stehe Euthanasie zu, argumentieren Befürworter. Ab März 2023 soll Euthanasie auch bei psychisch Leidenden erlaubt sein. Insgesamt haben zwischen 2016 und 2021 bereits 31.664 Menschen vorzeitig ihr Leben mit „medizinischer Assistenz“ beendet.
In 44,2% führten Ärzte die Tötung auf Verlangen zu Hause durch. 28,6% der Fälle wurden im Krankenhaus, 19,6% in Palliativeinrichtungen und 6,1% in Pflegeheimen vollzogen. Die Regierung kündigte an, ein Budget von 3,3 Millionen Kanadische Dollar (CAD) bereitzustellen, um das Gesundheitspersonal für eine „qualitätsgesicherte Sterbehilfe“ zu schulen (Pressemitteilung, 26.7.2022).
Autonomieverlust als Grund – das soziale Umfeld blieb unberücksichtigt
Der häufigste Grund für die Beantragung von tödlichen Präparaten sind laut MAID-Report nicht Schmerzen. Vielmehr geben 86,3% der Personen, die um Sterbehilfe baten (Durchschnittsalter: 76,3 Jahre) als Beweggrund an: „Verlust der Fähigkeit, sinnvolle Aktivitäten auszuführen“ beziehungsweise „Verlust der Fähigkeit, Aktivitäten des täglichen Lebens zu verrichten“. 35,7% fühlten sich als „eine Last für ihre Angehörigen“. Fast jeder fünfte nannte „Isolation und Einsamkeit“ als Grund für den Wunsch nach Tötung (17,3%). Long-COVID war bei der Auswertung noch nicht dabei, der soziale Status wurde bislang nicht erhoben.
Wenn Sterbehilfe als kostengünstige Option verschrieben wird
Medial ist das Thema in Kanada kaum präsent. Doch mittlerweile mehren sich kritische Stimmen. Nun wurden Fälle bekannt, in denen Ärzte Sterbehilfe als kostengünstigere Option anbieten oder durchführen – auch ohne Zustimmung der Patienten (vgl. National Post, online, 3. Mai 2022). Dahinter stünden Argumente wie Mitleid, aber auch gesundheitsökonomische Gründe. Die Gesundheitsversorgung, insbesondere für chronisch Kranke, sei teuer, „medizinische Sterbehilfe“ hingegen kostenlos. Diejenigen, die sich vollständig auf die staatliche Medicare-Versicherung verlassen müssten, würden klarerweise eine „weitaus größere Belastung für die Staatskasse darstellen als diejenigen, die Ersparnisse oder private Versicherungen haben“, bringt der Politikwissenschaftler Yuan Yi Zhu (Universität Oxford) die soziale Schieflage auf den Punkt. Ärmere Menschen würden das Gesundheitssystem mehr belasten als Wohlhabende. „Euthanasie hingegen kostet den Steuerzahler nur 2.327 Dollar pro ‚Fall‘“ (vgl. Spectator, 30. April 2022). Bereits 2020 hatten kanadische Ökonomen vorgerechnet, dass sich durch Euthanasie jährlich 149 Millionen CAD einsparen ließen (Bioethik aktuell, 19.11.2020).
Beschränkungen für den Zugang sind stets lebensrettend
Der Medizinjurist Trudo Lemmens (Universität Toronto) kommentierte die Entwicklung des Jahres 2021 im Vergleich zu den Vorjahren als „bemerkenswert schnell“ (vgl. CTV-News, 13.8.2022). Im Vergleich zu Belgien und den Niederlanden, wo diese Praxis bereits seit 20 Jahren besteht, hat Kanada die Zahlen der europäischen Länder bereits in nur fünf Jahren erreicht oder übertroffen. Da MAID in Kanada auch für Menschen mit chronischen Krankheiten oder Behinderungen, deren Todeszeitpunkt nicht vorhersehbar ist, eingeführt worden ist, könnte dies den Anstieg der Zahlen mitverursacht haben, so Lemmens. Der Jurist hatte bereits zuvor kritisiert, dass mit der Ausweitung der Indikationen für Sterbehilfe die Versorgungsstandards untergraben würden (Bioethik aktuell, 4.3.2021).
Lemmens wies darauf hin, dass die Zahl der abgelehnten Anträge in den Niederlanden mit 12 bis 16 Prozent wesentlich höher liege als in Kanada (4%). Das könne damit zusammenhängen, dass die Beschränkungen (in seiner Sicht „lebensrettende Beschränkungen“) in Kanada weit geringer sind als in den meisten Ländern mit liberalen Euthanasie-Reglements.