Immer häufiger spricht man im Gesundheitsbereich von ‚moralischem Stress‘, alsp psychische Belastungen, die auftreten, wenn man nicht mehr so handeln kann, wie man es für gut und richtig hält. Die berufliche Integrität kann dadurch bedroht oder gar verletzt werden. Die Gründe dafür sind vielfältig. Überlastung durch Personalmangel, steile Hierarchien und ökonomische Zwänge spielen eine Rolle. Stress tritt auch auf, Ressourcen fehlen. Gewissensbisse, innere Konflikte und Burnout können durch emotionale Überforderung oder überhöhte Ansprüche an sich selbst ausgelöst werden. Welche Strategien sind nötig, um moralischen Stress zu erkennen, zu benennen und sowohl persönlich als auch systemisch die Resilienz zu stärken? Damit befasste sich das interdisziplinäre IMABE-Jahressymposium unter dem Thema "Krisen. Emotionen. Lösungen – Konflikte am Krankenbett", das am 11. November 2022 in Wien stattfand. Die Vorträge erscheinen nun in IMAGO HOMINIS.
Führungskräfte sollen Störungen rechtzeitig erkennen und nach Lösungen suchen
Die Psychologinnen Barbara Juen, Alexander Kreh, Priya-Lena Riedel und Vanessa Kulcar (Universität Innsbruck) zeigen, dass Resilienz unterschiedlich ausgeprägt sein kann. Um Stresssituationen auszuhalten, brauchen Mitarbeiter ihr Team. Hauptaufgabe der Führungskräfte ist es, fürsorglich zu sein, Störung rechtzeitig zu erkennen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Dabei müsse man auf die „Widerstandsfähigkeit, Erholungsfähigkeit und Wachstumsfähigkeit des Teams“ fokussieren.
Moralischer Stress bezeichnet eine psychische Reaktion auf eine moralische Herausforderung. Moralische Herausforderungen können Unsicherheit, Konflikte, Fehlverhalten oder Handlungsbarrieren auf verschiedenen Ebenen des sozialen Handelns beinhalten, analysiert die Münchner Psychologin und Medizinethikerin Katja Kühlmeyer (LMU München). So können sich jüngere Ärzte oder Pflegende mit „unangemessenen Erwartungen“ konfrontiert sehen. Sie fühlen sich allein gelassen mit Situationen, denen sie sich aufgrund mangelnder Erfahrung oder fehlender Unterstützung durch die Führung nicht gewachsen fühlen. Hier entsteht moralischer Stress, der das ethische Handeln des Einzelnen erschweren oder verhindern kann. Stressfaktoren kann man nur dann vorbeugen, wenn sie adäquat definiert und kategorisiert werden.
Fürsorge braucht Selbstsorge
Resilient gegenüber Stressoren, Konflikten und Krisen zu sein bedeutet mit ihnen zu interagieren und durch diese zu wachsen. Dies muss sowohl auf persönlicher Ebene als auch im Team ermöglicht werden. Der Palliativforscher Andreas Heller (Zentrum für Interdisziplinäre Alterns- und Care-Forschung an der Grazer Karl-Franzens-Universität) erläutert in seinem Beitrag, dass die Lösung nicht einfach in einer „professionell“ emotionalen Distanz gegenüber den Patienten bestehen darf.
Gerade in der Palliativpflege oder bei besonders emotionalen Fällen seien nämlich die physische Präsenz sowie Mitleid und Mitgefühl genauso essenziell wie die medizinische Versorgung, um eine empathische Betreuung zu ermöglichen. Dennoch brauche Fürsorge auch Selbstsorge: Andere zu lieben, um sich um andere zu sorgen, setzt voraus, dass man sich um sich selbst sorgt und sich selbst liebt.
Emotionen als positive Ressource entdecken
Eigene Gefühle zu verstehen und sich konkrete „Oasen der Integrität“ zu schaffen, können im Aufbau der persönlichen Resilienz gegenüber Stressoren hilfreich sein, betont Sozialethiker Clemens Sedmak (University of Notre Dame/USA). Er deutete hierbei auf Schönheit, Freundschaft, Ruhe und Gebet hin, friedenstiftende „Nahrungsmittel der Seele“, um Integrität im Arbeitsalltag zu gewährleisten.
In Bezug auf zwischenmenschliche Konflikte schlägt die Psychologin und Psychotherapeutin Helga Kernstock-Redl (Wien) vor, Emotionen als positive Ressource zu sehen und die Chancen im Konfliktmanagement zu erkennen. Nicht alle Konflikte sind veränderbar, aber alle haben mit Gefühlen zu tun. Wer also Konflikte bewältigen möchte, muss lernen, seine eigenen Gefühle zu regulieren und sich „Gewohnheiten der Selbstberuhigung“ anzueignen.
Hilfreiche Nähe und heilsame Distanz ist ein dynamischer Prozess
Einen praktischen Einblick in einen von Krisen und emotionalen Konflikten geprägten Alltag von Gesundheitsfachkräften gewährt die Pädiaterin Martina Kronberger-Vollnhofer (MOMO-Kinderhospiz, Wien). Bei der Begleitung von schwerkranken Kindern und ihren Familien sei es unabkömmlich, sich auf eine authentische Beziehung mit dem Kind und vor allem mit den gesunden Geschwistern, den Eltern und den Angehörigen einzulassen. Eine gewisse Verletzlichkeit der Gesundheitsfachkräfte ist notwendig, um die vulnerablen Gefühle der Familie zu ehren und annehmen zu können. Hilfreiche Nähe und heilsame Distanz sind nach Kronberger-Vollnhofer ein dynamischer Prozess, in dem man die Balance immer neu finden müsse. Der Zusammenhalt im Team sei zudem ganz entscheidend, um gemeinsam die Machtlosigkeit aushalten zu können.
Die IMAGO HOMINIS-Ausgabe Moralischer Stress und Resilienz 01/2023 kann hier bestellt werden.