Das Tauziehen um die Fortführung der Ernährung des französischen Wachkoma-Patienten Vincent Lambert geht weiter. Ein Gericht in Paris hat am 20. Mai entschieden, dass die künstliche Ernährung Lamberts wieder aufgenommen werden muss, nachdem Lamberts Eltern den Fall beim UN-Ausschusses zum Schutz der Rechte von Behinderten eingereicht hatten (vgl. Die Presse, online, 21.5.2019). Der Ausschuss forderte eine Fortsetzung der Behandlung, solange er sich nicht abschließend mit dem Fall befasst habe. Dies kann Monate dauern.
Die Familie ist tief zerstritten. Während Lamberts Frau den Abbruch der Ernährung befürwortet, wollen seine Eltern dies verhindern und haben dazu auch internationale Instanzen angerufen. Den Entscheid des UN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen werten sie als Erfolg. Sie fordern nun die Verlegung ihres Sohnes in ein Krankenhaus, das auf Wachkomapatienten spezialisiert ist.
Seit einem Motorradunfall 2008 liegt der heute 42-jährige Vincent Lambert im Wachkoma. Er ist querschnittsgelähmt, öffnet die Augen und muss künstlich ernährt werden. Laut Ärzten befinde er sich in einem „vegetativen Zustand“. Bereits im Jahr 2013 hatten die Ärzte die künstliche Ernährung abgebrochen, bis das Gericht einschritt. Lambert hatte zu diesem Zeitpunkt 31 Tage ohne Nahrung und mit nur sehr wenig Wasser überlebt.
IMABE-Direktor Johannes Bonelli weiß um die Tragik solcher Fälle, beobachtet aber zugleich mit Sorge eine „medial aufgeheizte Sprache, die offenbar nicht mehr zwischen Sterben, Töten und legitimen Behandlungsverzicht unterscheidet.“ Das führe zu „ethischer Verwirrung“. Wachkoma-Patienten, so der Internist, seien ja „nicht per se Sterbende“. Das zeige sich deutlich am Beispiel Lamberts: „Er steht nicht zwischen Leben und Tod, sondern er ist ein schwerer Pflegefall“, präzisiert Bonelli. Jemandem in diesem Fall Nahrung und Flüssigkeit zu verweigern, um damit den Tod absichtlich frühzeitig herbeizuführen, habe daher nichts mit einem ethisch legitimen „Sterben lassen“ zu tun.
Grundsätzlich nennt Bonelli fünf Bedingungen, unter denen aus medizinischer Sicht die Beendigung oder der Verzicht auf eine Heilbehandlung gerechtfertigt sind: 1) wenn eine Therapie eher schadet als nützt, 2) wenn keine Chance auf Heilung oder Lebensverlängerung besteht, 3) wenn der Aufwand in keinem Verhältnis zum erwartbaren Erfolg steht (Prinzip der Verhältnismäßigkeit), 4) wenn der Tod unmittelbar und unausweichlich bevorsteht, 5) wenn der Patient die Therapie ablehnt, zum Beispiel durch eine Patientenverfügung. Im Fall von Lambert würde laut Bonelli keiner der fünf Punkte zutreffen: Er befinde sich in einem Zustand mit minimaler Kontaktaufnahme, atme selbständig und könne seit mehr als 10 Jahren die zugeführte Nahrung und Flüssigkeit offensichtlich gut verstoffwechseln, „sonst wäre er schon längst nicht mehr am Leben“. Eine PEG-Sonde sei ein relativ unaufwändiges Mittel und es liege keine Patientenverfügung vor.
Ein bewusster Nahrungsentzug bei Wachkoma-Patienten mit der Absicht, ihr Leben zu beenden, hat daher nichts mit einer Krankheitsbekämpfung zu tun noch einem „Sterben lassen“, sondern richtet sich direkt gegen das Leben. „Ein Nahrungsentzug in diesem Fall käme einer direkten passiven Tötung durch Verhungern bzw. Verdursten gleich, was aus ethischer Perspektive abzulehnen ist“, betont der Internist. Laut Österreichischer Wachkoma-Gesellschaft gibt es hierzulande 600 bis 800 Wachkoma-Patienten. „Sollten die Gerichte einen Nahrungsabbruch durchsetzen, wäre dies eine Gefahr für die vielen Wachkommapatienten weltweit und ein bedenklicher Schritt in Richtung Euthanasie“, kritisiert Bonelli.
Der Fall Lambert beschäftigt seit Jahren die Justiz und heizt die Sterbehilfe-Debatte in Frankreich an. Sowohl der Europäische Menschenrechtsgerichtshof als auch ein französisches Ärzteteam hatten zuvor entschieden, dass die künstliche Ernährung des früheren Krankenpflegers abgebrochen werden kann. Laut dem sogenannten Claeys-Leonetti-Gesetz kann in Frankreich ein medizinisches Team über den Behandlungsstopp eines Patienten entscheiden.