Ein Arzt kann nicht finanziell dafür haftbar gemacht werden, wenn er das Leben eines Patienten künstlich verlängert, auch wenn dies in Augen Dritter als reine Leidensverlängerung angesehen wird oder medizinisch nicht indiziert war. Dies stellte nun der Deutsche Bundesgerichtshof (BGH) in einem Grundsatzurteil klar. Der BGH begründet sein Urteil damit, dass das Leben juristisch niemals als „Schaden“ eingestuft werden dürfe, sei es auch noch so leidvoll: „Das menschliche Leben ist ein höchstrangiges Rechtsgut und absolut erhaltungswürdig. Das Urteil über seinen Wert steht keinem Dritten zu. Deshalb verbietet es sich, das Leben - auch ein leidensbehaftetes Weiterleben - als Schaden anzusehen“, so die Karlsruher Richter (vgl. Pressemitteilung online, 2.4.2019).
„Das Urteil des Bundesgerichts zur künstlichen Ernährung und Arzthaftung kann aus medizinethischer Sicht nur begrüßt werden. Menschliches Leben, egal ob es krank, schwach, oder mühselig ist, kann niemals als Schaden angesehen werden“, unterstreicht IMABE-Direktor Johannes Bonelli. Es wäre ein „fatales Signal“, wenn Ärzte nach den „Kind als Schaden“-Urteilen nun auch mit „Greise als Schaden“-Urteilen zu rechnen hätten, so der Internist. Ärzte müssten in der Ausbildung in ihrer Kompetenz gestärkt werden, um sowohl Über- als auch Unterversorgung zu vermeiden (vgl. IMABE-Info Grenzsituationen in Medizin und Pflege 2: PEG-Sonde im Pflegeheim). „Was aber nicht sein darf, ist, dass ein psychischer Druck auf Ärzte entsteht, einen älteren Patienten mit Demenz von vorneherein nicht mehr zu ernähren, nur weil hier Haftungsklagen im Raum stehen“, betont Bonelli.
Geklagt hatte der in den USA lebende Sohn und Alleinerbe eines im Alter von 82 Jahren verstorbenen Mannes. Sein Vater, der an fortschreitender Demenz litt, wurde seit 2006 per Magensonde ernährt. „Er war zu Beginn der Therapie keineswegs sterbend, weshalb eine Verweigerung von Ernährung und damit in diesem Fall ein Verhungernlassen aus ethischer Perspektive unmoralisch gewesen wäre“, betont IMABE-Direktor Bonelli. Maßnahmen müssen laufend evaluiert werden und können gegebenenfalls auch abgesetzt werden, wenn ein Patient tatsächlich im Sterben liegt, so der Internist. Ob der Hausarzt damals einen Fehler gemacht hat oder nicht, ließ das Karlsruher Gericht offen. Wie viel Behandlung der Patient selbst gewünscht hätte, weiß niemand. Eine Patientenverfügung hatte der alte Mann nicht verfasst, auch sein mutmaßlicher Wille mit Blick auf lebenserhaltende Maßnahmen ließ sich nicht feststellen.
Der Sohn war hingegen der Ansicht, dass das Leiden seines Vaters wegen der künstlichen Ernährung unnötig in die Länge gezogen wurde. Der Arzt müsse deshalb für dessen Schmerzen haften, weil er das Leben und damit das Leiden verlängert habe. Der Sohn klagte auf Schmerzensgeld sowie einen Ersatz für Behandlungs- und Pflegeaufwendungen in der Höhe von 150.000 Euro. Vertreten wurde der Kläger durch den Münchner Anwalt Wolfgang Putz. Putz hat schon mehrere öffentlichkeitswirksame Verfahren zum Thema Sterbehilfe in Deutschland geführt.
Nach Ansicht der Richter begäbe man sich mit einem solchen Anspruch auf gänzlich verbotenes Terrain - den Ärzten würde die Entscheidung über den Wert des Lebens abverlangt (vgl. Süddeutsche Zeitung, online, 2.4.2019). In erster Instanz wurde das Verhalten des Arztes als Behandlungsfehler gewertet. Die zweite Instanz (das Oberlandesgericht München) urteilte, dass die Lebensverlängerung per PEG-Sonde einen Schaden im Rechtssinn darstellte. Es sprach dem Sohn zumindest ein Schmerzensgeld von 40.000 EUR zu. Das Bundesgericht in Karlsruhe hat nun in letzter Instanz diese Klage abgelehnt. Die Aufklärungspflicht eines Arztes habe nicht den Zweck, „den Erben das Vermögen des Patienten ungeschmälert zu erhalten“, so die Richter.