Der prominente Psychiater Boudewijn Chabot zeigt sich erschrocken über die Zustände der Euthanasie in den Niederlanden. Chabot gilt als Befürworter und Vorkämpfer der Euthanasiegesetze seines Landes, die weltweit zu den liberalsten zählen und seit 2002 in Kraft sind. „Das System in den Niederlanden ist entgleist“, kritisiert Chabot.
Der Psychiater zeigt sich in einer der führenden niederländischen Zeitungen, dem NRC Handelsblad (online, 16.6.2017), entsetzt über die rasche Zunahme der Zahl von Menschen mit einer psychiatrischen Krankheit oder Demenz, die durch Euthanasie starben: 12 Fälle bei Demenzkranken fanden 2009 statt, im Jahr 2016 waren es bereits 141 Fälle, bei chronischen psychiatrischen Patienten stieg die Zahl von 0 auf 60. Dies sei eine besorgniserregende Entwicklung in Hinblick auf die wachsende Anzahl von Menschen mit Demenz und chronischen psychiatrischen Erkrankungen, so Chabot, der die Budgetkürzungen in der Versorgung dieser Patientengruppe kritisiert.
Alle fünf Jahre führen die Niederlande eine offizielle Studie über End-of-Life-Entscheidungen im eigenen Land durch, um festzustellen, wie die Menschen sterben und ob Bedenken gegenüber dem Euthanasiegesetz angebracht sind. Die jüngst publizierte Studie ergab für das Jahr 2015 7.254 „unterstützte“ Todesfälle (rund 20 pro Tag!). Davon waren 6.672 Euthanasie-Fälle und 150 Todesfälle durch Beihilfe zum Selbstmord. In weiteren 431 Fällen töteten die Ärzte ohne explizite Einwilligung des Patienten (vgl. Zentrales Statistikbüro, online, 24.5.2017).
Chabot kritisiert, dass die gesetzlichen Schutzmaßnahmen für die Sterbehilfe langsam wegbrechen und Menschen mit psychiatrischen Leiden oder Demenz nicht mehr geschützt würden. Erst kürzlich hatten mehr als 200 niederländische Ärzte öffentlich gegen Euthanasie bei fortgeschrittener Demenz protestiert (NRC, online, 9.2.2017) „Unsere moralische Abneigung, das Leben eines wehrlosen Menschen zu beenden, ist zu groß“, schrieben die Ärzte. Sie wehren sich, jemandem bloß aufgrund einer Patientenverfügung aktive Sterbehilfe zu leisten, ohne aktuelle mündliche Zustimmung. „Wir haben es mit einer moralisch problematischen Handlung zu tun: Wie töten Sie jemanden, der nicht versteht, dass er getötet wird?“, gibt Chabot zu Bedenken.
Scharf kritisiert der einstige Euthanasie-Vorreiter die sogenannten Lebensende-Kliniken (vgl. Bioethik aktuell, 13.2.2012). Sie bieten jenen Patienten Sterbehilfe an, deren eigene Ärzte diese abgelehnt hatten. 2016 wurden hier 75 Prozent aller Euthanasiefälle bei chronischen psychiatrischen Patienten durchgeführt. „Ich weiß nicht, wie wir den Geist wieder in die Flasche zurückbekommen“, kommentiert Chabot bitter.
In den USA haben sich 15 US-Bundesstaaten klar gegen die Einführung von assistiertem Suizid ausgesprochen (vgl. Genéthique, online, 15.7.2017). Bemerkenswert ist eine kürzlich im Fachjournal Chest (https://doi.org/10.1016/j.chest.2017.06.007) publizierte Arbeit, die von Studenten führender US-Medizinuniversitäten verfasst wurde. Die kommende Generation von US-Ärzten hat große Bedenken hinsichtlich einer „Normalisierung“ von aktiver Sterbehilfe. Immer häufiger werde es als quasi „vernünftig“ dargestellt, dass Anwärter für ein Hospiz besser vorzeitig ihr Leben beenden. „Das bedeutet eine Verschiebung des eigentlichen Auftrags der Medizin. Wir lehnen den Druck ab, mit dem dies legitimiert wird, und Handlungen an medizinische Fachleute delegiert werden, die grundsätzlich mit unseren ethischen Grundprinzipien in Widerspruch stehen“, so die Jung-Mediziner.