Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg bestätigte die Verurteilung eines dänischen Arztes wegen Beihilfe zum Suizid (vgl. Lings v. Denmark - 15136/20 Judgment 12.4.2022). Dieser hatte in drei Fällen Patienten in ihren Suizidabsichten unterstützt und bei deren Selbsttötungen mitgeholfen. Dabei könne er sich nicht auf die Meinungsfreiheit berufen, urteilte der EGMR.
Der pensionierte Arzt Sven Lings war vom dänischen Gericht im Jahr 2019 wegen Beihilfe zum Suizid rechtskräftig zu 60 Tagen Haft auf Bewährung verurteilt. Die Haftstrafe musste der Arzt aufgrund seines hohen Alters nicht antreten. Der inzwischen 81-Jährige legte beim EGMR dennoch Beschwerde ein. Er habe nur allgemein Informationen über den Suizid verbreitet. Sein Recht auf freie Meinungsäußerung nach Art. 10 der Menschenrechtskonvention (EMRK) sei durch die Verurteilung verletzt worden.
Lings ist ein bekannter Sterbehilfe-Aktivist in Dänemark, er fordert die dortige Legalisierung der Euthanasie und Beihilfe zur Selbsttötung. Als Gründer einer „Sterbehilfe“-Organisation veröffentlichte er auf seiner Webseite eine nach eigenen Angaben „sehr benutzerfreundliche“ Anleitung zum Suizid (vgl. TV2, 12.5.2018) - inklusive detaillierter Beschreibungen von rund 300 Medikamenten und deren erforderlicher Dosis zur Selbsttötung. Die allgemeine Veröffentlichung im Internet ist nach dänischem Recht legal, eine konkrete persönliche Beihilfe zum Suizid ist hingegen verboten.
Im Jahr 2017 gab Lings dann in einem Radio-Interview zu, bereits mehrfach Menschen dabei unterstützt zu haben, sich das Leben zu nehmen (vgl. TV2, 12.4.2022). Er hatte unter anderem zwei Personen, deren Suizidabsichten er kannte, ein bestimmtes Präparat zwecks Selbsttötung verschrieben, und einer dritten geraten, sich neben der Einnahme einer Überdosis von Medikamenten eine Plastiktüte über den Kopf zu ziehen. Zwei starben, einer erholte sich laut EGMR wieder vollständig. Der Arzt wurde daraufhin mit einem Berufsverbot der Ärztekammer belegt und aus der Ärztekammer ausgeschlossen.
Laut EGMR-Urteil liegt keine Verletzung des Rechts auf freie Meinungsäußerung vor und auch kein unangemessenes Strafmaß seitens der dänischen Gerichte. Das Thema der Beihilfe zum Suizid werfe „Fragen der Moral“ auf, in denen die Mitgliedstaaten des Europarats „weit davon entfernt“ sind, „einen Konsens zu erzielen“, weshalb jedem Land ein entsprechender Ermessensspielraum zusteht. Die Beihilfe zur Selbsttötung steht in Dänemark unter Strafe.Die Gründe für die Verurteilung, nämlich Schutz der Gesundheit und Moral und der Rechte anderer, seien legitim, bekräftigt der EGMR.
Die Straßburger Richter betonen zudem, dass es nach der Europäischen Menschenrechtskonvention „kein Recht auf Beihilfe zum Suizid“ gebe, auch nicht in Form von konkreten Informationen oder Unterstützung beim Suizid.
In Österreich wird derzeit Druck aufgebaut, wonach Ärzte, Pflegende, Apotheker oder Notare quasi verpflichtet wären, an geplanten Suiziden mitzuwirken, mit dem Argument, jeder habe das Recht zu entscheiden, wann er oder sie sterben will. Die erneute Klarstellung durch den EGMR ist daher wichtig, betont IMABE-Geschäftsführerin Susanne Kummer. Demnach habe kein Staat eine „positive Verpflichtung“, tödliche Präparate zur Verfügung zu stellen. „Die Autonomie des einen darf die Autonomie des anderen - insbesondere jene der in Gesundheitsberufen Tätigen - nicht einfach aushebeln“, gibt Kummer zu bedenken. Im laufenden Diskurs gewinne man den Eindruck, dass „die Autonomie zunehmend als Autokratie, also einer Art Herrschaft des einzelnen über andere, die seinen Willen umsetzen müssen, umgedeutet wird“, kritisiert die Ethikerin.
Insbesondere appelliert Kummer dabei an Medienschaffende: Diese sollten ihre Verantwortung in der Suizid-Berichterstattung wahrnehmen. "Hier werden Bilder geprägt - wie etwa, dass Beihilfe zum Suizid die Lösung für Probleme ist, - die das Selbstverständnis vieler, gerade älterer oder Menschen mit dauerhaften körperlichen Einschränkungen, negativ beeinflussen können."
Die WHO hat bereits 2008 Richtlinien zur Darstellung von Suizid in Medien (Update 2017) erlassen. Medienschaffende werden darin aufgefordert, sowohl eine „Sensationssprache“ als auch eine „normalisierende Darstellung von Selbstmord als Lösung für Probleme“ zu vermeiden, ebenso eine „prominente Platzierung von Geschichten über Selbstmord“ sowie eine „explizite Beschreibung der verwendeten Methode“. „Das gilt auch für die Schilderung der Fälle von Beihilfe beim Suizid“, betont Kummer.