Psychopharmakon – Medizinphilosophische Überlegungen über ein Schlüsselwort in Medizin und Theologie

Imago Hominis (2003); 10(2): 108-111
Gottfried Roth

Heilung wird allgemein als Wiederherstellung einer verloren gegangenen Ordnung verstanden; Heil ist dann der Status, der a priori gegeben war oder der wiederhergestellt wurde. Das Begriffspaar Heilung und Heil hat eine innere Verbindung; in seiner lateinischen Version sanitas und salus zeigt sich aber, dass bei der Verwendung beider Begriffe nicht streng unterschieden wird. Bei Isidor von Sevilla wird die Medizin als Wissenschaft definiert, die entweder die Gesundheit bewahrt oder wiederherstellt1; andererseits wird in der Formel saluti et solatio aegrorum das Wort sanitas nicht verwendet.

Wenn der Begriff heilen in der Sicht medizinischer Anthropologie entfaltet wird, so ergeben sich unschwer zwei Gruppen von Heilungen: Die humanmedizinische Gruppe, die Spontanheilungen, pragmatisches Heilen mittels medikamentöser Therapien, chirurgischer Eingriffe und Balneotherapie, sowie das suggestive (magische) und das psychotherapeutische Heilen umfasst (A. Jores2). Auch Mischformen sind möglich. Aus der Sicht der Pastoralmedizin gibt es eine zweite Gruppe: dazu gehören die extramedikalen Heilungen, die charismatischen Heilungen und die sakramentalen Heilungen.

Mit dieser Entfaltung wird deutlich, dass das Begriffspaar Heilung und Heil einen weiten Bereich umfasst, der für den Menschen als Leib-Geistseele-Wesen jeweils sinngemäß darzustellen und definitorisch zu benennen ist, um manche Unklarheiten und Verwirrungen zu vermeiden.

Die Quellen der medizinischen Nomenklatur liegen in der antiken Medizin; zu den griechisch-sprachigen Bezeichnungen der Krankheiten und Therapien kommen vor allem lateinische, aber auch hebräische und arabische Wörter hinzu;3 es werden auch neue Begriffe geprägt und zwar nicht nur nach linguistischen Gesetzmäßigkeiten.

Um die Mitte des 20. Jahrhunderts kam mit der Einführung neurotroper Substanzen für die Therapie psychiatrisch relevanter Erkrankungen das Wort Psychopharmakon in Gebrauch.

Medizinphilosophisch ergab sich zwingend ein Problem, nämlich die Frage, was denn eigentlich Psychosen (Geisteskrankheiten) seien, wogegen ja die Psychopharmaka therapeutisch verwendet werden.

Psychose im allgemeinen, jedoch klinischen Sinn ist mit Viktor E. Gebsattel4 „ein Gesamt sekundärer, von Soma dependenter Störungen geistiger Funktionen“; Geisteskrankheiten sind also Gehirnkrankheiten.5

Psychose ist eine sogenannte Geisteskrankheit. Bei Georg Trapp6 liest man, dass „das Kranksein der Leibsphäre die Ausdrucks- und Darstellungsmöglichkeit des Geistes so entscheidend behindern kann, dass es zum Erscheinungsbild von Geisteskrankheiten kommen kann…“

Durch die Auffassung der Psychosen als Leibkrankheiten mit spezifischer Behinderung der personalen Geistsphäre des Menschen, konnte man am herkömmlichen Krankheitsbegriff und zugleich am Krankheitscharakter der Psychosen festhalten. Hiebei wurde immer wieder auf das unbestreitbar richtige Moment hingewiesen, dass der geistige Selbststand für eine irgendwie geartete Zersetzung oder Verformung deswegen nicht anfällig sein könne, weil eben seiner einfachen Seinswirklichkeit das Organische nicht eignet (G. Trapp). Gleichsinniges findet sich auch bei R. Kautzky: „was … an seelischen Störungen beobachtet wird, wird als Folge, als Ausdruck von Gehirnerkrankungen oder am Gehirn wirksam werdenden Allgemeinerkrankungen, etwa von Stoffwechselstörungen angesehen.“7

Wenn man das Leib-Seele-Problem und die Frage nach dem Wesen der Geisteskrankheiten in der psychiatrischen Literatur weiter verfolgt, so finden sich in den psychopathologischen Publikationen der Gegenwart wiederholt thomanische Auffassungen oder thomistische Interpretationen.

Schon 1929 hat W. Jacobi die thomanische Auffassung gerühmt: „Es muss für alle Zeiten als ein Hauptverdienst Thomas von Aquins bezeichnet werden, diese substantielle Einheit von Leib und Seele im Menschen in gebührender Weise hervorgehoben zu haben“8 und E. B. Strauss bedauert in seiner Schrift über die Irrwege der Psychotherapie zwanzig Jahre später, „dass wir uns so weit von Ansichten Thomas von Aquins entfernt haben, der die Wirklichkeit von Materie und Geist anerkannte, aber den lebenden Organismus als unauflösliche, psychosomatische Einheit ansah“.9 Tatsächlich setzen wir ja immer, wenn wir Leib sagen, die ihn informierende Seele hinzu. Um die gleiche Zeit schreibt V. E. Frankl in den „zehn Thesen über die Person“: „In Wahrheit gibt es gar keine Geistes-Krankheiten. Denn der Geist, die geistige Person selbst, kann überhaupt nicht erkranken, und auch hinter der Psychose ist sie da, wenn auch dem Blick des Psychiaters kaum sichtbar“.10 Was für die Erkrankungsmöglichkeit gilt, gilt auch für die Wirkung einer somatischen Therapie. „Nicht nur eine Erkrankung kommt nur an den psychophysischen Organismus, aber nicht an die geistige Person heran, sondern auch die Behandlung. Auch das Messer des Neurochirurgen vermag nicht, die geistige Person zu tangieren“.11 Vom Pharmakon werden jeweils zerebrale Strukturen beeinflusst, welche als materielle Substrate für geist-seelische Funktionen diese zu modifizieren vermögen.

Geisteskrankheiten sind also Hirnstoffwechselstörungen, Neurotransmitter-Störungen, sie sind Behinderungen der menschlichen Geistseele, deren Wesen und Existenz unbeeinflusst bleibt, deren Fähigkeiten und Vermögen sich in Fehlformen, in psychiatrischen Syndromen darstellen. Geistig-seelisches Leben hat eine äußere Abhängigkeit vom Gehirn, aber keine innere. Der Informationsträger ist materiell gegeben, die Information aber ist immer immateriell. Der Inhalt des Gedachten ist unabhängig vom Informationsträger, seine Existenz aber ist durchaus von diesem abhängig.

Die psychiatrischen Zustandsbilder, die Störungen des Denkens, des Fühlens und Wollens, der Aktivität und der Kontaktfähigkeit, in welcher Kombination diese immer auftreten mögen, finden sich in jener Dimension des Menschen verursacht, die jenseits der Personmitte liegt. Durch krankhafte Ursachen wird jeweils nur die psychologische Persönlichkeit tangiert. Die Persönlichkeitsveränderung beim inzipienten Hirntumor, bei Infektionskrankheiten des Gehirns, bei den Psychosen liegt in einer psychophysischen Ebene. Die metaphysische Persönlichkeit wird nicht berührt. Demzufolge wird die Geisteskrankheit nicht als Krankheit des Geistes angesehen, sondern mit Recht „als prozesshaft verlaufende Störung der geistig-seelischen Funktion auf Grund einer bestimmten, der formalen Eigenart der Störung zugeordneten Erkrankung körperlicher Grundlagen des Seelenlebens“.12

„Der Geist kann wohl irren und fehlen, aber physische Vorgänge sind an ihm nicht möglich. Dagegen ist es aber ganz erklärlich, dass er durch körperliche Zustände in seiner Funktion gehindert wird, wenn nämlich die Teile durch Krankheit verändert sind, die als körperliches Substrat von geistigen Akten zu deren Vollzug notwendig sind.“13 J. Wyrsch hat sich mit dieser Frage befasst und zitiert aus De anima jenen Satz, demzufolge Thomas von Aquin, in unserer Nomenklatur gesprochen, nur organische Psychosen für möglich hält: „Der Grund ist der, dass wir sehen, wie viele Schwächungen des Denk- und Sinnesvermögens nicht die Seele an sich berühren, sondern aus einer Schwäche des Organes stammen. So scheint die Denkseele und jede Seele überhaupt unvergänglich zu sein und die Schwächung ihrer Tätigkeiten nicht daher zu kommen, dass die Seele vergänglich ist, sondern daher, dass die Organe geschwächt sind“. Wyrsch interpretiert diese Stelle folgendermaßen:

„Es gibt nur organische Psychosen. Die Seele selbst ist unzerstörbar und kann also nicht erkranken, sondern nur der Körper, dessen forma sie ist, kann es und dann sind die Äußerungen der an sich unzerstörbaren Seele gestört“. Es werden auch einige somatische Gründe für psychische Erkrankungen angeführt:

In senectute, in aegritudinibus, in ebrietatibus ist der Mensch besonders für psychische Erkrankungen disponiert. Es handelt sich also um Alters- und Intoxikationspsychosen sowie um Psychosen bei gleichzeitig bestehenden Erkrankungen.14

Der Begriff Psychopharmakon ist aufgrund der obigen Erwägungen eigentlich falsch.

Geistesgeschichtlich ist aber darauf hinzuweisen, dass die Wortverbindung aus Psyche und Pharmakon schon Jahrhunderte früher erfolgte. Die Verbindung beider Wörter ist schon im 16. Jahrhundert nachweisbar.15 1548 wird von Reinhardus Lorichius (Hadamarius) einem Ludwig, Grafen von Stolberg, Königstein und Rochefort, Herrn in Epstein, Mintzenberg und Breuberg, ein Buch unter dem Titel Psychopharmakon, hoc est: medicina animae dediziert, dessen erste Seite hier wiedergegeben ist. Es handelt sich um die lateinische Übersetzung eines deutschen Textes, der der Literaturgattung Trost- und Sterbebüchlein zuzuschreiben ist. Die medicina animae ist die Kunst des heilsamen Lebens und menschlichen Sterbens. Es handelt sich um ein Lehrbuch für den gesunden und den kranken Menschen.

Ich habe dieses Buch in der Stiftsbibliothek Herzogenburg gefunden, gewissermaßen zufällig, unter den medizinischen (!) Büchern des 16. Jahrhunderts; es war (wahrscheinlich seit langem) verstellt; dieser Fund ist geistesgeschichtlich und medizinphilosophisch bedeutsam und erhellend. Im Medium des Wortes verwirklicht sich die Heilkraft des ärztlichen Gesprächs und der medizinischen Lektüre.

Das Wort, sein Sinngehalt wird (in der Psychotherapie) zum Heilmittel, zum Pharmakon, und rückt in den Rang des medicamentum. Das Wort entfaltet therapeutische Wirksamkeit in der Dimension der Geistseele des Menschen; folglich ist die Wortprägung von Psychopharmakon legitim und der Titel des oben zitierten Buches rechtens: Ein psychotherapeutisches und pastoralmedizinisches Lehrbuch für den gesunden und kranken Menschen in all seinen Dimensionen. Gemäß einer schichtentheoretischen Auffassung menschlicher Erkrankungen betont R. Allers: „Auch Krankheit kann, wenn im Bezug auf verschiedene Schichten des Seins ausgesagt, nicht eindeutig, sondern nur analogisch verstanden werden; es ist sinnvoll, innerhalb jeder der Seinsschichten, denen die menschliche Person angehört und die in ihr zusammentreffen oder zusammengenommen sind, von Krankheit zu sprechen“. Allers definiert dann sinngemäß heilen: „Heilung also bedeutet die Herstellung des bestmöglichen Verhaltens innerhalb jener Seinsschicht, in welcher ein Mangel jeweils offenkundig wird. Daher ist es sinnvollerweise statthaft, von Heilung zu sprechen, sowohl bei körperlichen Krankheiten oder Mängeln, bei Störungen im Verhalten zu den Mitmenschen oder der Gemeinschaft, wie zu den Gütern der Kultur und auch der Beziehung zu den Glaubenswerten; in letzter Hinsicht ist das Wort von der Sendung Christi zu den Kranken aufschlussreich“.16 Der Mensch ist ein ens religiosum, sodass mit Recht von charismatischen und sakramentalen Heilungen gesprochen werden kann.

Referenzen

  1. medicina est quae vel corporis (salutem) tuetur vel salutem restaurat. Sancti Isidori, Hispalensis episquopi. opera omnia, Tom III, liber IV, 183; Parisiis 1878
  2. Jores, A., Der Mensch und seine Krankheit, Stuttgart 1970 (4), S. 90f, S. 21
  3. Hyrtl, J., Das Arabische und Hebräische in der Anatomie, Wien (1879)
  4. v. Gebsattel, V. E., Prolegomena zu einer medizinischen Anthropologie, Berlin-Göttinger-Heidelberg (1945)
  5. Griesinger, W., Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, Braunschweig (1876); Vol 4: 1
  6. Trapp, G., Mythologisierung der Medizin?, Stimmen der Zeit (1954/55); Vol 153: 279ff
  7. Kautzky, R., Die Bedeutung der Person des Menschen in der modernen medizinischen Wissenschaft, Arzt und Christ (1964); Vol 10: S. 162-176
  8. Jacobi, W., Psychiatrie und Weltanschauung, Berlin (1929)
  9. Strauss, E. B., Quovadimus? Irrwege der Psychotherapie, Innsbruck-Wien (1948)
  10. V. E. Frankl: 10 Thesen über die Person. In: Logos und Existenz, Wien (1951), S. 52
  11. siehe 10., S. 53
  12. Willwoll, A., Leib-Seele. In: Brugger, W., Philosophisches Wörterbuch, Wien (1967)
  13. Brunner, A., Die Grundlagen der Philosophie, Freiburg i. Breisgau (1949), S. 123
  14. Wyrsch, J., Zur Geschichte und Deutung der endogenen Psychosen, Stuttgart (1956)
  15. Philologischerseits wird verneint, dass der Begriff Psychopharmakon eine Prägung der antiken Medizin sei, vielmehr handle es sich um eine für die Zeit des Humanismus typische Kombination zweier Wörter.
  16. Allers, R., Heilerziehung bei Abwegigkeit des Charakters, Benzinger; Einsiedeln-Köln. o. J.; S. 16

Weiterführende Literatur

  • Roth, G., Psychopharmakon hoc est: medicina animae (1548); Confin. psychiat. (1964); Vol 7: 179-182

Anschrift des Autors:

MR Dr. Gottfried Roth
Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, Professor für Pastoralmedizin
Stockhammerngasse 7, A-1140 Wien

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