Gibt es ein Recht auf Unvollkommenheit? Warum ein behindertes Kind niemals eine Schadensquelle sein kann

Imago Hominis (2006); 13(3): 187-188
Susanne Kummer

Das jüngste OGH-Urteil, mit dem ein Salzburger Frauenarzt für die Existenz eines behinderten Kindes haftbar gemacht werden soll, löste in Österreich eine Welle des Protests aus. Wie berichtet, hatte die Mutter eines behinderten Kindes den Arzt nach der Geburt (1997) auf Schadenersatz geklagt. Der Gynäkologe soll den Unterhalt für das behinderte Kind zahlen, weil er sie nicht ausreichend über die Risiken der Schwangerschaft aufgeklärt habe, so das OGH-Urteil. Wäre der Akademikerin das Risiko klarer gewesen, dass das Kind an Down-Syndrom leiden würde, hätte sie es abgetrieben. Es kam anders. Nun also soll der Arzt selbst in die Tasche greifen (pro Monat sind bis zu 3.700 Euro angedacht), um den angerichteten Schaden wieder gut zu machen. Ein Kind als Schadensquelle?

Der Aufschrei der Behindertenverbände angesichts dieses Urteils kommt nicht von ungefähr. Sie berufen sich unter anderem auf die Bundesverfassung, wonach eine Diskriminierung von Menschen mit Behinderung untersagt ist. Das Argument ist nicht von der Hand zu weisen. Geborene Behinderte haben‘s (relativ) gut: Für sie werden schiefe Rampen gebaut und positive Maßnahmen gesetzt, um ihnen das Leben zu erleichtern. Ungeborene Behinderte hingegen haben kaum noch eine (Lebens-) Chance. Man diskriminiert sie als Schaden, der abwendbar scheint, indem das Kind zeitgerecht abgetrieben wird. Die Methoden der Pränataldiagnose nehmen zu, allerdings (noch) nicht um zu heilen, sondern um zu verhindern. Eine Logik, die sich bei näherem Hinsehen als Spirale des Schreckens erweist.

Zunächst: Wenn Ärzte angesichts dieses OGH-Urteils auf die Barrikaden gehen, es „unakzeptabel“ nennen und von einem „Skandal“ sprechen, ist das ihr gutes Recht. Wo bleibt angesichts solcher Rechtsprechung noch Platz für den Gewissensvorbehalt des Arztes, der weiß, dass die Diagnose „Behinderung“ keine Therapie für das Kind in Aussicht stellt, sondern allenfalls seine Tötung – und er genau dafür nicht Handlanger sein will? Kein Arzt ist zur Durchführung oder Mitwirkung an einer Abtreibung verpflichtet. Das Gesetz schützt ihn davor. Angesichts dieses Urteils verstärkt sich jedoch der ohnehin schon bestehende Druck auf Ärzte, Frauen zu raten, sicherheitshalber abzutreiben. Ein krasserer Gegensatz zum eigentlichen Heilungsauftrag des Arztes ist kaum möglich.

Und wer weiß, ob nicht in absehbarer Zeit auch Eltern klagen, wenn sie ein gesundes Kind zur Welt bringen, aber meinen, vom Arzt nicht genügend auf die psychischen Belastungen hingewiesen worden zu sein, die Schreihälse eben verursachen können?

Bei allem Respekt vor der Informationspflicht des Arztes: Die Klägerin im jüngsten Fall wurde sehr wohl über das Risiko informiert. Laut OGH aber nicht „ausführlich und eindringlich“ genug, damit sie die Konsequenz einer zusätzlichen Untersuchung auf sich nimmt. Wenn dieses Urteil Schule macht, müssen sich Ärzte in Zukunft auf eine Lawine von Klagen gefasst machen. Jeder Patient, der keine compliance hat, kann später den Arzt dafür verantwortlich machen mit dem Hinweis, er habe ihn nicht nachdrücklich genug informiert.

Zweitens: Abtreibung ist laut Strafgesetzbuch rechtswidrig. Die Tötung eines Kindes im Mutterleib ist nur unter bestimmten Umständen straffrei gestellt. Nun erleben wir, wie die Gewaltentrennung, das Fundament der Demokratie, aufgehoben wird: die Richterschaft schreibt die Gesetze um. „Makaber“ nannte deshalb der ehemalige „Die Zeit“-Chefredakteur Robert Leicht die Konsequenz, die die deutschen Richter wie nun ihre österreichischen Kollegen in ihren „Kind als Schaden“-Urteilen gezogen haben: Die passive Straffreiheit der Abtreibung wird umgedeutet in einen aktiven Anspruch: von der Straffreiheit zum Recht auf Abtreibung.

Drittens: Was ist eigentlich mit jenen Eltern, die ihr behindertes Kind annehmen, ohne eine Abtreibung in Erwägung gezogen zu haben? Was den Anspruch auf wirtschaftlichen Ausgleich anlangt, stehen sie ungleich schlechter da als jene, die von vorneherein sagen: Wir wollten das Kind abtreiben, jetzt müssen wir für es sorgen. Eine perverse Situation.

Und schließlich: Wer bestimmt in Zeiten, wo ein gesundes Kind als Recht angesehen wird, was der Norm entspricht, was normal ist? In Großbritannien gelten Klumpfüße als Abtreibungsindikation – und das, obwohl die Deformation leicht operativ behoben werden kann. Ein weiteres erschreckendes Beispiel: Das Technikfolgen-Abschätzungsbüro des Deutschen Bundestages ließ vor einigen Jahren eine Umfrage unter Frauen durchführen, was als Behinderung angesehen wird. Fast ein Fünftel aller befragten Frauen – und es waren immerhin über 1000 – sagten, dass auch eine genetische Veranlagung zum Übergewicht für sie ein Grund sei, ihr Kind abzutreiben. Welche Krankheiten werden in die Watch-Liste aufgenommen? Welche nicht? Oder gibt es vielleicht gar kein Recht auf ein gesundes Kind?

Fazit: Es wird höchste Zeit, ein Recht auf Leben in Unvollkommenheit einklagen zu dürfen. Denn gäbe es das nicht, dürfte keiner von uns noch hier sitzen.

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Mag. Susanne Kummer, Imabe-Institut
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