Hat die Autonomie des Patienten Grenzen?
Ein 1957 geborener Mann, als Kleinbauer tätig, verheiratet, hat alles daran gesetzt, seine beiden Töchter „etwas lernen“ zu lassen. Sie arbeiten beide im Gesundheitssystem und rufen mit großer Sorge um ihren Vater in der Ordination eines plastischen Chirurgen an, da ihnen aufgrund einer nicht heilen wollenden Wunde nach mehreren operativen Eingriffen an der Unterlippe dringend eine Wiederherstellungsoperation empfohlen wurde. Der Mann nimmt die Autofahrt von zwei Stunden auf sich und erscheint in relativ gutem Allgemeinzustand mit einer Tochter in der Ordination. Er wirkt verängstigt – hat an seiner Unterlippe einen relativ großen, durchnässten Verband. Nach Entfernung desselben zeigt sich eine sehr kurze Unterlippe, die in der rechten Hälfte einen großen Substanzdefekt aufweist. Dort sind die Zähne und die weit zurückgewichenen Zahnhälse sichtbar, Speichel rinnt aus der Mundhöhle, und er kann kaum sprechen. Am Wundgrund liegen gelbe Beläge. Der Mund kann nicht geschlossen werden, der rechte Mundwinkel ist nach oben verzogen. Der Mann hat keine Arztbriefe, Operationsprotokolle oder ähnliches dabei, sodass sie akut angefordert werden müssen.
Dadurch lässt sich folgende Anamnese erheben: Der Patient wurde vor 3 Jahren wegen eines Plattenepithelkarzinoms (im Tumorstadium pT1, pN0, M0) an der rechten Unterlippe operiert, war regelmäßig bei einer Sonografie der Halslymphknoten im Rahmen der halbjährlichen Tumornachsorge. Rund 2 1/2 Jahre danach zeigte sich an der Resektionsstelle ein „Wimmerl“. Dieses wurde unter dem Verdacht eines Rezidivs ohne Hinweis auf Metastasen operiert (histologisch fand sich kein Anhaltspunkt für ein Rezidiv). Wegen einer Wundheilungstörung (die Wunde klaffte bereits am 5. postoperativen Tag) wurde insgesamt dreimal nachoperiert. Trotz aller Bemühungen misslang leider auch der dritte Versuch, den Defekt durch eine direkte Naht zu verschließen.
Der Patient steht wegen verschiedener anderer internistischer Erkrankungen (Hypercholesterinämie, Antrumgastritis, Emphysem, art. Hypertonie, Typ II Diabetes) beim Hausarzt in regelmäßiger Kontrolle und nimmt täglich zahlreiche Medikamente (wie Inderal, Harmomed, Tresleen, Atarax, Saroten, Tebofortan, Pantoloc und Mexalen) ein. Auf die Frage, ob er rauche, gibt er zu, seit 45 Jahren täglich 60 Zigaretten zu rauchen – und dies nicht aufgeben zu wollen. Es schließt sich ein langes Aufklärungsgespräch über die verschiedenen relativ komplizierten Rekonstruktionsmöglichkeiten einer fast zur Hälfte fehlenden Unterlippe an, wobei der Arzt den zahlreichen Fragen sowohl von Seiten des Patienten wie seiner Tochter Rede und Antwort steht und zur Veranschaulichung der Situation auch Zeichnungen angefertigt werden. Die beiden sind nach diesem Gespräch auf „Augenhöhe“ offensichtlich erleichtert, bekommen Bedenkzeit und willigen schließlich in eine neuerliche Operation mit dem Ziel der Unterlippenrekonstruktion durch Lappenplastik ein. Diese Operation verlangt vom Patienten Disziplin, im Besonderen eingeschränkte Nahrungsaufnahme und Sprechverbot für mindestens 5 Tage, und hat Narbenbildung im Gesicht zur Folge. Es wird vom Arzt auch auf den schädigenden Einfluss des Nikotins hingewiesen und vorgeschlagen, in den kommenden zwei Wochen vor der Operation mit dem Rauchen komplett aufzuhören. Am Abend des Gesprächs wird der Chirurg per E-Mail kontaktiert, in dem die Tochter mitteilt, wie froh die ganze Familie über die positiven Aussichten wäre, dem Vater entscheidend helfen zu können. Auch versichert die Tochter darin, dass die Familie mit Nikotinpflaster und evtl. Akupunktur alles versuchen wolle, um den Vater vom Rauchen abzubringen.
Es gelang nicht einmal eine Woche lang, dieses Vorhaben durchzuziehen. In den ersten Tagen ging der Patient öfters als normal in den Wald, um sich vom Nichtrauchen abzulenken.
Nach einer Woche erhielt der Chirurg ein weiteres E-Mail, in dem ihm der Wunsch des Patienten mitgeteilt wurde, von jeglicher weiterer Therapie Abstand nehmen zu wollen.