Editorial

Imago Hominis (2022); 29(2): 067-069
Susanne Kummer

Die ethische Argumentation zugunsten von Euthanasie und assistiertem Suizid lebt von verdeckten anthropologischen Prämissen, die weder der realen Situation schwerkranker und sterbender Patienten gerecht werden noch dem Menschen überhaupt. Die Überhöhung der Autonomie übersieht nämlich die existentiell soziale Dimension des Menschen: seine fundamentale Angewiesenheit auf andere, sein Eingebunden-Sein in Gemeinschaft. Der Mensch ist ein soziales Wesen. Das zoon politikon der antiken Philosophie hat bis heute nichts an Gültigkeit verloren. Auch Immanuel Kants Hauptargument gegen die Zulässigkeit des Suizids knüpfte hier an. Suizid ist keine Privatsache. Wir alle sind miteinander verbunden, keiner ist eine Insel für sich. Deshalb setzt sich im ethischen Diskurs das Konzept der „relationalen Autonomie“ durch. Das Ich gewinnt sich am Du (Martin Buber) – oder zerbricht in einem gesellschaftlichen Klima, das die Beihilfe zum Suizid als geglückten Fall von Autonomie hochstilisiert.

Menschen, die sich mit Tötungsgedanken befassen, leben nicht auf einer seligen Insel der Autonomie. Im Gegenteil: Wer schwer krank, einsam oder gebrechlich ist, befindet sich in einer höchst verletzlichen Phase seines Lebens. Die Konzepte von menschlicher Autonomie bzw. Selbstbestimmung müssen daher in einen größeren Rahmen gestellt werden: in jenen von Verletzlichkeit, Schutz und Solidarität, gerade dann, wenn es um Krankheit und Sterben geht.

In Österreich gilt seit 1.1.2022 das Sterbeverfügungsgesetz (StVfG). „Verdächtig wenige Menschen“ hätten bislang Beihilfe zum Suizid in Anspruch genommen, hieß es kürzlich in Medienberichten, die „Hürden“ seien „zu hoch“. Sollten sich weiterhin zu wenige Ärzte am assistierten Suizid beteiligen, müsse der „Staat ein eigenes Angebot“ schaffen. Der Zugang zur Sterbehilfe dürfe „nicht von der Moral anderer abhängen“. Die Sterbehilfe-Debatte gibt sich einen liberalen Anschein, doch sie trägt den Keim des Totalitären in sich (T. S. Hoffmann). Nicht mehr Suizidprävention, sondern Suizidkooperation soll nun also Aufgabe des Staates sein.

Gibt es überhaupt ein Recht auf Euthanasie oder assistierten Suizid? Genau das hat der EGMR im April 2022 im Urteil Lings v. Denmark zurückgewiesen. Es gibt keinen „Versorgungsauftrag“ des Staates, Suizide zu ermöglichen, und daher auch keine positive Verpflichtung, tödliche Präparate oder Personal zur Verfügung zu stellen. Der Gesetzgeber stellt mit dem StVfG Tötung unter bestimmten Auflagen straffrei. Das ist ein Novum in der Rechtsgeschichte – abgesehen von jenen dunklen Epochen des 20. Jahrhunderts, in denen totalitäre Regime legale Tötungen verordneten. Aus den Regelungen von straffreien Tötungen kann aber weder aus moralischen noch aus juristischen Gründen eine Pflicht zum Angebot des Staates auf Tötungen abgeleitet werden.

Wir leben in keinem moralfreien Raum. Ärzte sollen ihr Ethos in der Moral-Garderobe abgeben und dem Töten „wertneutral“ gegenüberstehen. Allerdings: Schmerzen nehmen, Leiden lindern und Sterben zulassen zählen zum ärztlichen und pflegerischen Ethos – nicht aber das Töten. Wo nicht mehr der Schutz des Lebens das höchste Gut ist, wird „der Arzt zum gefährlichsten Menschen im Staat“ schrieb schon Christoph Wilhelm Hufeland (1762-1836).

In den vergangenen 20 Jahren sind im Schnitt 3,7 Österreicher pro Jahr in die Schweiz gefahren, um sich mittels bereitgestelltem tödlichen Gift ihr Leben zu nehmen. Als 2018 in den Niederlanden ‚nur‘ 17 Menschen pro Tag (!) durch Euthanasie starben, zeigte sich das Parlament besorgt, da dies ein ‚Rückgang‘ gegenüber anderen Jahren war. Ist das die Zukunft: Dass ein Gesundheitsminister sich dafür rechtfertigen muss, warum es in Österreich ‚nicht genug assistierte Suizide‘ gibt?

Bleiben wir präzise: Es gibt ein Recht auf Leben. Es gibt ein Recht darauf, dass Sterben nicht unnötig verlängert, sondern zugelassen wird. Aber es gibt kein Recht auf Tötung.

Umso wichtiger scheint es, dass sich angesichts der neuen Gesetzeslage Ärzte, Pflegende und Mitarbeiter in Langzeit-, Hospiz- und Palliativeinrichtungen die Frage stellen, wie sie mit Todeswünschen von Patienten umgehen sollen. Wie werden Sterbewünsche überhaupt wahrgenommen? Was bedeuten sie? Wie soll man darauf reagieren?
Sterbewünsche am Lebensende sind komplex. Gesetze, die den assistierten Suizid und Tötung auf Verlangen regeln, machen sie noch komplexer. Dieser Komplexität widmet sich die vorliegende Ausgabe von Imago Hominis.

Ist die Einbindung in eine Aufklärungstätigkeit im Rahmen des StVfG für Ärzte moralisch vertretbar? Oder beinhaltet sie eine Komplizenschaft bzw. Mitwirkung des aufklärenden Arztes am Suizid des Betroffenen? Der katholische Moraltheologe Franz Josef Bormann (Universität Tübingen) nähert sich dem österreichischen Gesetz aus moraltheologischer Perspektive. Er rückt dabei die Rolle der beteiligten Ärzte auf Grundlage der traditionellen Mitwirkungslehre (cooperatio ad malum) in den Fokus. Bormann kommt zu dem Ergebnis, dass die Teilnahme an der ‚Aufklärung‘ unter den konkreten rechtlichen Umständen für Ärzte moralisch kaum rechtfertigbar ist. Ihre Tätigkeit ist damit Teil der prozeduralen Anforderungen an einer legalen Suizidassistenz und weist einen unmittelbaren Bezug zur nicht nur nach christlichem Verständnis moralisch unzulässigen Suizidhandlung auf.

Wie kann ein offenes, sorgendes Gespräch geführt werden mit Menschen, die Suizidgedanken oder -wünsche äußern? Die Schweizer Onkologin Karin Nestor (Palliativmedizin Klinik für Medizinische Onkologie und Hämatologie, St. Gallen) greift in ihrem Beitrag auf den Wiener Psychiater und Pionier in der Suizidforschung, Erwin Ringel (1921 – 1994), zurück. Sie analysiert die Herausforderungen, vor der Gesundheitsberufe angesichts der Suizidalität ihrer Patienten stehen.

Der Schweizer Psychiater und Psychotherapeut Raimund Klesse (Chur) analysiert anhand der Entwicklungen in der Schweiz, wie begleitete (Selbst-)Tötungen eine effektive Suizidprävention verhindern und in der Schweiz die Zahl der Suizide massiv erhöht hat. Suizidbeihilfe kann zu gravierenden psychischen Folgeerscheinungen bei allen Beteiligten führen und sollte daher aus den Institutionen des Gesundheits- und Sozialwesens ferngehalten werden.

Der Versuch des österreichischen Gesetzgebers, die Legalisierung nur auf solche Fälle einzuschränken, in denen der Suizident an einer schweren und unheilbaren Krankheit leidet, wird voraussichtlich keinen Bestand haben, erläutert der Jurist Jacob Cornides (Brüssel). Der Rechtswissenschaftler Michael Memmer (Universität Wien) widmet sich der Entwicklung der Strafbarkeit des Selbstmords und des assistierten Suizids in Österreich aus rechtshistorischer Sicht.

Unter dem Titel „Beihilfe zum Suizid: Können wir die Last tragen?“ stellt Clemens Sedmak (Center for Social Concerns, University of Notre Dame/Indiana, USA) vier Fragen zum Urteil des Österreichischen Verfassungsgerichtshofes. Er tut dies als Philosoph – und als Betroffener.

S. Kummer

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
Unterstützt von: