Placebo und Homöpathie
Univ.-Prof. Dr. Friedrich Kummer
Stand: März 2007
Placebo steht heute für „Scheinmedikament“, welches zwecks Negativkontrolle bei der Testung eines neuen Wirkprinzips diesem entgegengestellt wird (meist in pharmakologischen Prüfungen). Das Placebo sollte also nicht nur wirkungslos, sondern auch nebenwirkungsfrei sein. Siehe da: beides konnte nicht aufrechterhalten werden, es musste sogar ein „Nocebo“ („Ich werde schaden“) definiert werden: Ein Scheinmedikament, bei dem der subjektive Schaden überwiegt.
Im Falle des angeblich wirkungslosen Placebos („Negativkontrolle“, s. o.) stellte sich heraus, dass ein Placebo sensationelle Wirkung haben und das angeblich so gute neue Verum-Präparat schlechter abschneidet.
Der Erfolg einer Placebogabe hängt von diversen Faktoren ab, die da sind: Persönlichkeit des „Heilers“, das Ritual der Verabreichung, die Art des Placebos selbst, die Erwartungshaltung des Patienten, die Art der Erkrankung, der Symptome und andere mehr.
Eigentlich gibt es keinen „Placebo-Effekt“, da Placebo per definitionem wirkungslos ist, sondern nur einen placebo-assoziierten Effekt. Dieser wurde extensiv bei großen klinischen Studien beobachtet und war bei Vergleichsuntersuchungen von Schmerzmitteln nach orthopädischen Eingriffen bis zu 100% den Verum-Präparaten ebenbürtig. Bei entzündlichen Darmerkrankungen, Arthritis, diabetischer Neuropathie oder Depression erreichte das Placebo bis zu 2/3 der Wirksamkeit des jeweiligen Verum-Präparates.
Gemäß der Deklaration von Helsinki darf ein neues Präparat nicht gegen Placebo allein getestet werden, sondern nur gegen die Kombination von Placebo mit einer bereits als wirksam erfundenen Therapie. Damit hat der placebo-assoziierte Effekt seine vorrangige Bedeutung bei der gesetzlich vorgeschriebenen Prüfung von Arzneimitteln.
Was aber ist von Medikamenten oder Heilmitteln zu halten, die von Patienten und auch Heilern (inkl. Ärzten) geschätzt, ja für unverzichtbar gehalten werden, für welche aber kein naturwissenschaftlich fundierter Wirkungsmechanismus erbracht werden kann? Da wären z. B. lange Listen von Präparaten zu nennen, die im offiziellen Arzneimittelverzeichnis eines jeden Landes zu finden sind und sogar von „zahlenden“ Versicherungsträgern anerkannt werden. Die Bestrebungen der letzteren, hier mehr Ordnung zu schaffen, sind nur von Teilerfolgen begleitet, zumal der Widerstand von Seiten der Anwender gegen die Streichung aus der „Liste“ erheblich zu sein pflegt.
Ähnliches geschieht, wenn man Zweifel an so manchen Methoden hegt, die aus jenem Teil der Erfahrungsmedizin stammen, die sich als „ganzheitlich“ bezeichnet und tatsächlich übergreifend natur- und geisteswissenschaftliche Ansprüche stellt. Wenn die Wirkung dieser beiden Aspekte naturwissenschaftlich nicht objektivierbar ist, dann können die Erfinder und Anwender dieser Methoden nur allzu oft der Versuchung nicht widerstehen, fachüberschreitende Erklärungsversuche anzustellen. Dazu nimmt man Anleihe bei naturwissenschaftlichen Begriffen wie Strahlung, Magnetismus, Energieströmen, Informationsübertragung und Quantenmechanik, was vom Berufsphysiker schlichtweg als Missbrauch bezeichnet wird. Fast regelhaft wird hier eine Kontroverse der sog. „Alternativmethodik“ mit der Schulmedizin ausgetragen, welche vernünftigerweise in die Kompromissbezeichnungen „komplementär“ (anstelle „alternativ“) und – umfassender – „Ganzheitsmedizin“ mündet.
Dies geschieht auch im Falle der Homöopathie, die zur Zeit wohl traditionsreichste und populärste Methode der Alternativmedizin. Sie steht vor dem Problem, dass ihre Überprüfbarkeit mit naturwissenschaftlichen Methoden auf Widerstand stößt. Der Grund dafür: Ihre Selbstdefinition (individualisierend, symptom-orientiert, auf Verträglichkeit getestet, mit Hochverdünnungen operierend) entzieht sich dem methodischen Ansatz der Schulmedizin. Diese baut bei der Sicherung der Evidenz auf große Fallzahlen in prospektiven, randomisierten und doppelt verblindeten Studien. So gesehen scheint die HP kaum eine Chance zu haben, einen auch von der Schulmedizin akzeptierbaren Grad der „Evidenz“ zu erreichen. Nichtsdestoweniger haben auch Homöopathen mit fundierter schulmedizinischer Basis immer wieder diese naturwissenschaftlichen Prüfungsmethoden angewandt, um den Faktor Suggestion bzw. placebo-assoziierten Effekt zu minimieren. So haben unter anderem Wiener Intensivmediziner mit homöopathischen Methoden auch bei Patienten an der künstlichen Beatmung gewisse Erfolge erzielt, die gegenüber Placebo statistisch gesichert waren. Erfolge dieser Art sind bei der HP tatsächlich und immer wieder zu sehen, doch werden sie eher bei Studien mit kleinen Fallzahlen beobachtet und verlieren sich bei großen Studien.
Eine vor kurzem erschienene aufwändige Analyse kommt zu dem Schluss, dass dies bei schulmedizinisch überprüften Therapiestudien umgekehrt sei: Je größer die Studie und Fallzahl, desto besser ließen sich die Erfolge erhärten. Diese Befunde und eigene Erfahrungen ließen Wiener klinische Pharmakologen darauf schließen, dass die HP doch eher auf placebo-assoziierten Effekten beruhe, wiewohl sich die Schulmedizin von der HP einiges an Gründlichkeit in der Anamneseerhebung, Zuwendung, Achtung der Individualität der Patienten usw. abschauen könne.
Eine gewichtige Relativierung der HP erwächst aus einem gewissen metaphysisch-pseudoreligiösen Anspruch, der ihr seit Hahnemann (1806) anhaftet und weiterhin Unterstützung findet. Dabei wird Krankheit mit dem Bösen, dem Makel schlechthin identifiziert, dem das Gute und Wahre (durch die HP vermittelt) entgegenzusetzen ist. Basierend auf der Geistesströmung des Vitalismus, welcher etwa vor 150 Jahren aus der Naturwissenschaft verbannt wurde, können nunmehr die esoterischen Parawissenschaften erneut zur Geltung kommen, die einem Dualismus aus (körperlicher) Materie und (geistbedingter) Lebenskraft huldigen. Die Wiederherstellung dieser Lebenskraft führt über die körperliche Heilung zur Hoffnung auf umfassende Heilung an Leib, Seele und Geist. Dieses Therapieziel wird aber auch von Vertretern der HP heute noch genannt. Die moderne HP verbindet sich mit der Psychologie von C. G. Jung, mit hermetisch-gnostischer Philosophie und mit kritiklosen Anleihen aus der theoretischen Physik.
Das beiderseitige Vertrauen stellt, wie bereits dargelegt, in der Arzt-Patient-Beziehung eine wichtige Grundhaltung dar. Der Arzt konzipiert für den individuellen Patienten die entsprechende Therapie nach bestem Wissen und Gewissen und spricht seine Empfehlung aus. Konsequenterweise wird der Arzt die medizinischen Maßnahmen, von denen er überzeugt ist, mit Optimismus einsetzen und dem Patienten Hoffnung und Zuversicht vermitteln. Das kann auch für Maßnahmen gelten, die in der Schulmedizin als „Pseudoplacebos“ (Vitaminpräparate, allgemeine roborierende Maßnahmen, Verumverabreichung in niedriger Dosierung etc.) gehandelt werden und deren Wirksamkeit in Frage gestellt und von der EBM nicht akzeptiert wird. Vorausgesetzt bleibt, dass bei dieser Vorgangsweise keine gesundheitsschädliche Wirkung die Folge sein darf. Gelegentlich muss ja der Arzt den Balanceakt vollbringen, dem Patienten die Hoffnung auf Besserung seiner subjektiven Beschwerden zu geben, während er nur Mittel anbieten kann, von deren Wirksamkeit er wenig überzeugt ist. Von schulmedizinischer Seite wird oft die Ansicht geäußert, reines Placebo zu verschreiben wäre eine Täuschung des Patienten und würde einen Vertrauensbruch bewirken. Das wäre tatsächlich dann der Fall, wenn die Verschreibung von klinisch erprobten (gegenüber Placebo wirksameren) Therapien unterbleiben würde und man erstrangig reine Placebos verordnen würde. Die Ansicht, dass eine Placeboverschreibung auch unter der Voraussetzung, dass EBM-geprüfte Therapien keinen Erfolg gebracht haben, eine Irreführung des Patienten und ein Verrat des ärztlichen Ethos sei, entspringt einer szientistischen Sichtweise. Demnach wäre Placebo und Wirkungslosigkeit gleichgesetzt. Man zieht es daher vor, klinische Therapien unendlich zu wiederholen in der Hoffnung, irgendwann die erwünschte Wirkung zu erreichen, anstatt Placebo auszuprobieren. Placebo wird als Niederlage der Naturwissenschaft gewertet, weil seine Wirkweise nicht erklärt werden kann. Wenn aber erprobte Mittel beim konkreten Patienten versagen, ist es sogar eine Frage des medizinischen „Hausverstandes“, Placebos zu verabreichen. Das geht zweifelsohne mit dem ärztlichen Ethos konform.
Das Problem liegt darin, dass Placebo vornehmlich dann wirkt, wenn der Patient der Überzeugung ist, ein für ihn sicher wirksames Medikament, ein Verum zu erhalten. Sehr wichtig ist aber in der Medizin die Unterscheidung zwischen objektiver und subjektiver Einschätzung. Das „Verum“ der Pharmakologie (objektive Einschätzung) und das „Verum“ für den Patienten (subjektive Einschätzung) folgen ganz anderen Diskursen, deren Ergebnisse, wie leicht ersichtlich, stark auseinander fallen können. Als Placebo könnte auch jenes Phänomen definiert werden, wonach ein unter pharmakologischen Gesichtspunkten „Nicht-Verum“ für den Patienten zum „Verum“ wird. Dieses Phänomen ist sicherlich kein physikalisches, kein naturwissenschaftlich fassbares, sondern eher ein psychologisch beschreibbares, aber doch zur ärztlichen Kunst gehörendes. Vor allem der Arzt kann dieses Phänomen durch seine kommunikativen Fähigkeiten und seine Überzeugungsgabe maßgeblich steuern. Es ist sicherlich keine Scharlatanerie, wenn er diese angesichts der Tatsache, dass Placebo wirkt, einsetzt. Dann ist die Verabreichung keine gezielte Irreführung des Patienten, und bedeutet im eigentlichen Sinn keinen Vertrauensbruch. Ganz im Gegenteil, die erste Verpflichtung des Arztes besteht im „nihil nocere“, und dieser wäre sicherlich Genüge getan. Natürlich verlangt der Einstieg des Arztes in eine Placebo-Therapie kommunikative Fähigkeiten, die heute dem Schulmediziner immer fremder geworden sind.
Aus ethischer Sicht kann man also sagen: Sind folgende Voraussetzungen erfüllt, kann die bewusste Verschreibung von reinem Placebo unter bestimmten Bedingungen sogar indiziert sein: 1) die Diagnose muss nach den Regeln der ärztlichen Kunst erfolgen; 2) es darf keine bessere und wirksamere Pharmakotherapie vorhanden sein; 3) der Patient erwartet aus den gegebenen Umständen heraus eine Arzneimittelbehandlung, und eine „Behandlungsabstinenz“ würde zum großen Schaden gereichen; 4) bei relativ geringen Beschwerden und dem dringenden Wunsch nach einer Behandlung, wenn die mögliche Pharmakotherapie mit dem Risiko schwerwiegender unerwünschter Folgen verbunden wäre.
Referenzen
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Kummer F., Homöopathie und Allopathie im Vergleich – Eine Metaanalyse aus 110 Studienpaaren, Imago Hominis (2006); 13: 237-239
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