Seit einigen Jahren steht das britische Gender Identity Development Service (GIDS) der Londoner Tavistock Klinik unter scharfer Kritik. Hier würden Kinder und Jugendliche, die sich psychisch nicht mit ihrem biologischen Geschlecht identifizieren können, vorschnell einer Behandlung mit Sexualhormonen mit teils irreversiblen Folgen unterzogen. Da die GIDS trotz Gesprächen zu keinerlei qualitätssichernden Maßnahmen bereit war, hat nun eine psychiatrische Krankenschwester und ehemalige Dozentin der Pflege, die 11 Jahre an der Klinik tätig war, diese geklagt. Sie wirft GIDS vor, rechtswidrig zu handeln, wenn nicht einwilligungsfähigen Minderjährigen Hormonblocker in der Pubertät und Sexualhormone zur Geschlechtsumwandlung verschrieben werden, berichtet der Telegraph (online, 6.1.2020). Es gehe nicht an, dass Kinder im Alter von neun bis zehn Jahren um ihre Einwilligung gebeten werden, „einer vollständig experimentellen Behandlung zuzustimmen, deren langfristige Folgen nicht bekannt sind“, betont die 62-jährige Susan Evans. „Experimentelle“ und „invasive medizinische Behandlungen“ bei Kindern müssten verhindert werden, um diese zu schützen.
Allein in Großbritannien stieg die Zahl der Minderjährigen, die sich im Londoner GIDS zwischen 2009 und 2019 einer Transgender-Behandlung mit Sexualhormonen unterzogen, um das 30-fache, von 77 auf 2.590 Fälle. In einigen Fällen waren die Kinder erst drei Jahre alt. Auch in Deutschland ist nach Angaben von Beratungsstellen die Anzahl solcher Kinder und Jugendlicher in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Für Österreich liegen keine Zahlen vor.
Kinder und Jugendliche, die ihr biologisches Geschlecht in Frage stellen, leiden nicht zwingend an einer Geschlechtsdysphorie. Häufig liegen andere Ursachen zugrunde, die mit normalen psychologischen Methoden behandelt werden könnten (vgl. Bioethik aktuell, 6.5.2019). In 80 Prozent der Fälle lernen die Betroffenen, sich mit ihrem Geschlecht auszusöhnen, der früher geäußerte Wunsch nach einer Geschlechtsumwandlung verschwindet. Die vorschnelle Gabe von Hormonblockern hingegen erschwert laut Experten diesen Prozess. Außerdem müssten irreversible Folgen und erhebliche Nebenwirkungen in Kauf genommen werden. Evans berichtet, dass immer wieder „Kinder trotz Autismus, Homosexualität oder irgendeiner Form von Trauma oder sexuellem Missbrauch für eine Hormontherapie“ überwiesen worden sind.
Die Krankenschwester steht mit ihrer Kritik nicht allein da. 35 Psychologen haben innerhalb der letzten drei Jahre die Klinik verlassen, weil sie sich zu einem unethischen und unprofessionellen Handeln gezwungen fühlten. Dies ergab eine Recherche von Sky News (online, 12.12.2019). Auch medizinische Fachgesellschaften fordern angesichts des Transgender-Booms dringend die Förderung und Finanzierung unabhängiger Forschungsarbeiten zu den Auswirkungen verschiedener Arten therapeutischer Interventionen (einschließlich des Abwartens) bezüglich Geschlechtsdysphorie bei Kindern und Jugendlichen.
So kritisiert das Royal College of General Practitioners in seiner Stellungnahme zu Transgender Care (Juni 2019), dass es derzeit „erhebliche Evidenzlücken für nahezu alle Aspekte des klinischen Managements von Geschlechtsdysphorie bei Jugendlichen“ gäbe. Auch das Royal College of Paediatrics and Child Health hat sein Expertengremium gebeten, sich mit der Ethik in Bezug auf die rasche Zunahme des Einsatzes von Hormonblockern zur Behandlung von Personen unter 16 Jahren, die sich als Transgender ausgeben, auseinanderzusetzen (vgl. The Times, online, 26.7.2019).
Carl Heneghan, Direktor des Zentrums für Evidenzbasierte Medizin an der Universität Oxford, betont, dass die „aktuelle Evidenzbasis keine fundierte Entscheidungsfindung und sichere Praxis bei Kindern unterstütze“ (vgl. BMJ EBM Blog, online, 25.3.2019). Es gebe „kaum Beweise“ für den „Off-Label-Einsatz von Medikamenten“ bei der Behandlung von Geschlechtsdysphorie. Im Grunde genommen handle es sich um ein „nicht reguliertes Lebendexperiment an Kindern“, kritisiert Heneghan gegenüber der Times.
Inzwischen wurde erstmals eine Anlaufstelle für junge Betroffene gegründet, die ihre Geschlechtsumwandlung bereuten und Hilfe suchen, um wieder in ihr ursprüngliches Geschlecht zurückzukehren. The Detransition Advocacy Network wurde von einer jungen Britin initiiert, die selbst 10 Jahre als Mann gelebt hatte und ihre „Detrans“ („Rückumwandlung“) 2018 öffentlich gemacht hat (vgl. Sky News, online, 5.10.2019). Nach ihrem Gang an die Öffentlichkeit habe sie hunderte Anfragen von Menschen mit dem gleichen Schicksal bekommen. Neben Aufklärung und Veranstaltungen bietet das Netzwerk mit Sitz in Manchester seit Jänner 2020 auch eine anonyme Telefonberatung als niederschwelliges Hilfsangebot an.