Seit dem 18. März 2024 ist die Leitlinie „Diagnostik und Behandlung von Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter“ (AWMF-Registernummer: 028-014) zur Kommentierung durch Fachgesellschaften freigegeben. 15 Lehrstuhlinhaber aus der Kinder- und Jugendmedizin, - unter ihnen die Kinderpsychiater Veit Rößner, Klinikdirektor am Uniklinikum Dresden, Florian Zepf, Leiter der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Jena und Tobias Banaschewski, Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim - haben sich mit einer 111-seitigen Stellungnahme zu diesem Entwurf gemeldet (Welt, online 25.4.2024). Sie fordern eine Überarbeitung durch die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP)
Warum werden Interessenskonflikte bei Autoren der Leitliniengruppe geduldet?
Wie das Deutsche Ärzteblatt (2.5 2024) berichtete, hat sich diese Expertengruppe mit ihrer Stellungnahme bewusst nicht an die Vorgabe gehalten, nur noch redaktionelle und keine inhaltlichen Änderungen mehr am Entwurf vorzuschlagen - der Einstimmigkeit wegen. Diese Vorgabe sei unverständlich, da die Fachwelt in dieser Frage seit Jahren „tief gespalten“ sei.
Unverständlich sei auch der bislang geduldete Interessenkonflikt unter den Mitgliedern der Leitliniengruppe. Besonders nachdenklich mache, dass eine beteiligte Endokrinologin eine vom Pharmahersteller Ferring finanzierte Stiftungsprofessur in Deutschland innehat. Das Unternehmen vermarktet - wie viele andere Unternehmen - etwa auch das Gonadotropin-Releasing-Hormon (GnrH)-Analogon Triptorelin, das zur Pubertätsblockade eingesetzt wird.
Geschlechtsidentitätsstörungen und -unzufriedenheit sind von Autismus abzugrenzen
Die Stellungnahme nimmt Bezug auf das kürzlich in Großbritannien veröffentliche Cass-Review (Bioethik online, 24.4.2024), in dem eine Beurteilung sämtlicher bisher verfügbaren Studien zu Transgendertherapien vorgenommen worden ist. Die deutschsprachigen Experten resümieren: „Die Empfehlungen würden im Falle einer Veröffentlichung zu einer Gefährdung vulnerabler Minderjähriger führen, da diese Maßnahmen noch nicht ausreichend erprobt sind.“
Inhaltlicher Streitpunkt ist etwa die Ablehnung eines generellen Autismus-Screening vor einer Trans-Therapie. Die Experten-Stellungnahme bezeichnet dies als „dringend notwendig“, da ein gemeinsames Auftreten von Autismus-Spektrum-Störungen und Geschlechtsidentitäts- störungen in einer Feldstudie bei 11 Prozent der Fälle vorliege. Auch verschwinde in 98 Prozent der Kinder und Jugendlichen mit Geschlechtsidentitätsstörung im Zeitverlauf eine Geschlechtsunzufriedenheit, diese bleibt nur in zwei Prozent bis ins Erwachsenenalter erhalten.
Der Ärztetag fasst einen Beschluss, der zu deutlich mehr Vorsicht mahnt
Ganz aktuell hat nun der 128. Deutsche Ärztetag am 10. Mai in Mainz auf der Grundlage eines Beschlussantrags von sieben Mitgliedern der Ärztekammer Mecklenburg-Vorpommern einen Beschluss gefasst, der Pubertätsblocker, Hormontherapien und Operationen bei unter 18-Jährigen mit Geschlechtsinkongruenz oder Geschlechtsdysphorie nur im Rahmen von wissenschaftlichen Studien zulassen soll (Deutsches Ärzteblatt, online 13.5.2024). Auch müsse ein multidisziplinäres Team hinzugezogen und eine klinische Ethikkommission eingeschaltet werden. In der Begründung heißt es, dass die wissenschaftliche Beweislage keine Hinweise darauf liefert, dass die empfohlenen Therapien die psychische Gesundheit verbessern.
Operative Maßnahmen haben den Status von experimenteller Medizin an Kindern
Die Begründung lautet: „Der Einsatz von Interventionen wie die Pubertätsblocker und die Hormongabe sind eine Form experimenteller Medizin an Kindern, der sich mit hoher Wahrscheinlichkeit Eingriffe in den kindlichen Körper anschließen, wie die Amputation von Brust oder Penis, und die den Verlust der Fortpflanzungsfähigkeit und die Verminderung der sexuellen Erlebnisfähigkeit bis hin zur Anorgasmie zur Folge haben.“ Zudem schreiben sie: „Eine Gender- bzw. Geschlechtsunzufriedenheit findet sich am häufigsten im Alter von zirka elf Jahren, die Häufigkeit dieser Symptomatik nimmt dann im weiteren Verlauf mit dem Alter ab.“
Die Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität labelt die Beschlüsse des Deutschen Ärztetages in einer Stellungnahme (11.5.2024) als „Beschlüsse gegen die Selbstbestimmung“ seitens der Ärzteschaft. Auf die schweren medizinischen Bedenken geht die Stellungnahme nicht ein. Stattdessen wird kritisiert, dass sich der Ärztetag „gegen die Rechte von trans* und nicht-binären Jugendlichen richten“ würde.
'Trans' als Zeitgeistphänomen: Dahinter stehen häufig ganz andere Probleme
Diese gesamte Entwicklung in der Frage „ist tatsächlich überraschend“, kommentiert Alexander Korte, Kinderpsychiater an der Ludwig Maximillian Universität in München in einem Interview für die NZZ (18.5.24). Und weiter: „Im klinischen Alltag sehen wir eine immense Steigerung der Diagnose Geschlechtsdysphorie.“ Korte warnt sogar davor, ein Zeitgeistphänomen zu medikalisieren: „Die Selbstdiagnose „trans“ ist überwiegend zum Zeitgeistphänomen geworden. Influencer auf Tiktok und Instagram werben geradezu dafür. Nemo, der „non-binäre“ Schweizer Gewinner des diesjährigen Eurovision Song Contest, wird den Hype noch verstärken. Ärzte und Psychologen sollten sich dem aber nicht unterwerfen. Hinter der Symptomatik Geschlechtsdysphorie stecken häufig ganz andere Probleme“.