Zuviel des Guten schadet - insbesondere wenn es um „überengagierte“ medizinische Maßnahmen bei Tumor- und anderen Patienten in der letzten Lebensphase geht. Angesichts dieser Gefahr der Überversorgung sollte das medizinethische Prinzip des „Nicht-Schadens“ heute prioritär berücksichtigt werden. Dafür plädiert Birgitt van Oorschot vom Universitätsklinikum Würzburg in einer aktuellen Analyse im Deutschen Ärzteblatt (Dsch Arztebl 2018; 115(47): [16]; DOI: 10.3238/PersOnko.2018.11.23.03).
Als Grundsatz einer patientenzentrierten Behandlung gilt: „Alle Maßnahmen, die den Sterbeprozess hinauszögern oder die Patienten zusätzlich belasten, sollen unterlassen werden. Dazu gehört insbesondere, dass in dieser Situation nicht mehr indizierte diagnostische oder therapeutische Maßnahmen und Medikationen unterlassen beziehungsweise beendet werden“, so die Fachärztin für Strahlentherapie.
In der Praxis fallen Entscheidungen für eine Therapiereduktion oder Therapiezieländerung am Lebensende nicht immer optimal aus. Van Oorschot, die auch Palliativmedizinerin ist, nennt als Beispiel multimorbide Patienten, die häufig noch bis wenige Wochen vor ihrem Tod Medikamente zur Senkung des Blutdrucks oder Cholesterinspiegels verschrieben bekommen und auch einnehmen - völlig nutzlos, wenn nicht sogar schädigend. „Bei multimorbiden und fortschreitend erkrankten nicht-onkologischen Patienten mit limitierter Prognose werden vorab sinnvolle Verordnungen viel zu selten beziehungsweise zu spät kritisch hinterfragt“, kritisiert van Oorschot, die auch Palliativmedizinerin ist.
Ein Problem bestünde auch im Abschieben von Verantwortlichkeiten: „Patienten erwarten vom Hausarzt die Weiterverordnung der fachärztlich angeordneten Medikation und fordern diese oft auch unkritisch ein. Fachärzte wiederum erwarten, dass der Hausarzt den Gesamtüberblick für seinen Patienten hat - eine große Herausforderung angesichts des weiter wachsenden medizinischen Fachwissens.“ Krankenhausaufenthalte bleiben offenbar ungenutzt, um eine kritische Evaluation der Medikation durchzuführen, was die Palliativmedizinerin bedauert.
Auch in der Onkologie gäbe es Verbesserungsbedarf: Laut internationaler Studien erhalten zwischen 8 und 30 Prozent aller Krebspatienten in den letzten 14 Lebenstagen noch eine Tumortherapie. Die Folgen seien eine „schlechte Symptomkontrolle und Lebensqualität, häufigeres Sterben im Krankenhaus sowie eine erschwerte Trauer für die Hinterbliebenen“.
Laut der Strahlenmedizinerin brauche es deshalb 1) eine bessere Zusammenarbeit
zwischen Fachärzten, Hausärzten und Palliativer Versorgung, 2) Teamkonferenzen und Ethikberatungen als hilfreiches Instrument der Entscheidungsfindung, 3) „Deprescribing“ - also das Absetzen von Medikamenten, das als ebenso selbstverständlicher Bestandteil der medizinischen Aus- und Weiterbildung wie die Indikationsstellung für die entsprechende medikamentöse Therapie gelten sollte. Darüber hinaus sollten auch falsche ökonomische Anreize überdacht werden.
Als wichtigen Punkt nennt van Oorschot, rechtzeitig offene Gespräche über die Realität und die Prognose der medizinischen Situation zu führen. Wenn Themen des Lebensendes frühzeitig angesprochen werden, führe das „bei Patienten und Angehörigen in der Sterbephase zu mehr Zufriedenheit“, psychische Belastungen würden reduziert und Patienten könnten bedarfsorientiert medizinisch versorgt werden.