Das „Institut für medizinische Anthropologie und Bioethik“ (IMABE) lud zu einem vielbeachteten Symposium nach Wien, um mit namhaften Experten der Frage nachzugehen, in welchem Kontext Selbstbestimmung mit zahlreichen Einflussfaktoren zu sehen ist und letztlich auch gelingen kann. Der einhellige Tenor: Es gibt keine Autonomie ohne Fürsorge. Einer der renommiertesten Medizinethiker der Gegenwart, Giovanni Maio, der an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg lehrt, ging in seinem Vortrag so weit, die Sorge „als Mutter“ der Autonomie zu bezeichnen. Selbstbestimmung, so Maio, entsteht nicht „von selbst“: Jeder Mensch ist in einem sozialen Gefüge eingebettet, das ihn geprägt hat. Maio sieht Selbstbestimmung daher als Ressource, nicht als Resultat.
Autonomie entsteht nur durch Beziehung zu Anderen
Ressourcen können sich aber nur entwickeln, wenn die Bedingungen dafür günstig sind. Für Maio ist Autonomie als Resultat von Selbstachtung zu sehen. Diese ist wiederum nur gegeben, wenn die den Menschen umgebenden Faktoren passen. Dies impliziert, dass der Mensch und Patient geachtet und ernst genommen wird, dass seine Meinung relevant ist und auch gehört wird. Autonomie entsteht nur durch Beziehung zu Anderen. Der Medizinethiker bezeichnete Beziehung als „Gefährtin“ der Autonomie, die den Menschen befähigt, eigene Bedürfnisse zu erkennen und dafür auch einzutreten. Selbstachtung ist Ausdruck erlebter Achtung durch andere, die dem Menschen in responsivem Sinn begegnen, in der Sorge um seinetwillen.
Qualität als Grundlage für Selbstbestimmung
Bei der „gelungenen“ Autonomie geht es auch darum, Angewiesenheit auf andere zu akzeptieren. Dies sei die Grundsignatur unseres Lebens, dass wir von Anbeginn unseres Daseins auf andere angewiesen sind. Autonomie ist immer in Beziehung zum „Du“ zu setzen; diese Angewiesenheit kann nur in der Gemeinschaft gedeihen. Der Medizinethiker sieht Autonomie auch als „Schwester“ der Verletzlichkeit. Es sei eine Illusion zu glauben, wir seien unverletzlich. Autonomie ist immer fragil, so Maio. Spätestens bei einer ernsten Krankheit werde die Autonomie auf eine harte Probe gestellt, da sei dann die „Gefährtin“ Beziehung zu anderen Menschen noch mal wichtiger. Maio plädierte in diesem Zusammenhang für eine neue Sorge-Kultur: Menschen in Krisensituationen zu befähigen, das Leben neu zu orientieren. Die Sorge als Entwicklungsaufgabe.
Die Palliativmedizinerin und Internistin Claudia Bausewein beleuchtete in ihrem Beitrag die Qualität ärztlichen Handelns, die dem Patienten letztlich Selbstbestimmung ermöglicht. Es ist, so die erfahrene Palliativmedizinerin, unsere genuine Aufgabe, gutes ärztliches Handeln im Sinne von „Wohltun“ zu praktizieren. „Es ist ein Armutszeugnis für unser Gesundheitssystem, dass dies oft erst am Ende des Lebens in der Palliativmedizin passiert“, so Bausewein. Sie sehe aber, dass sich das Selbstverständnis der Medizin geändert hat. Die paternalistische Medizin, die die Kompetenz, das Wissen und die Fürsorge ausschließlich auf ärztlicher Seite gesehen habe, werde vielfach durch andere Modelle abgelöst, bei denen dem Patienten und seiner Biographie eine größere Aufmerksamkeit geschenkt wird. So entwickelt der Arzt beim abwägenden Modell eine mögliche Lösung, die er zusammen mit dem Patienten bespricht.
Arzt und Patient entscheiden gemeinsam
Das deliberative Modell geht noch einen Schritt weiter: Es kommt zu einer partizipativen Entscheidungsfindung: Arzt und Patient entscheiden gemeinsam über die weitere Vorgangsweise. Ganz wichtig ist dabei: Der Arzt hat in der Folge auch die Entscheidung des Patienten anzunehmen. Für Bausewein hat jedes Modell seine Berechtigung. „Es gibt auch Situationen, wo der Patient seine Selbstbestimmung abgeben möchte, und der Arzt allein entscheiden muss.“ Für alle Modelle, so fordert Bausewein, die auch Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin ist, müsse die gleiche Grundhaltung des Arztes gelten. Ein Arzt sollte Empathie zeigen, wahrhaftig sein, psychosoziale Kompetenz entwickeln, kritische Selbstreflexion betreiben, Geduld aufbringen, Respekt und Demut vor der Situation des Patienten entwickeln. In der Palliativmedizin sei es zudem wichtig, Hoffnungen und Realität zusammenzuführen und für den Menschen in seiner letzten Phase Lebensqualität zu definieren. Es gehe darum, Raum und Atmosphäre zu schaffen, wo Vertrauen und Prozesse ermöglicht werden und eine fürsorgliche Begleitung in beiderseitigem Einverständnis stattfindet.
Die Themen Patientensicherheit und Rechtsunsicherheit wurden von der Geschäftsführerin des „Instituts für Ethik und Recht in der Medizin“ an der Universität Wien, Maria Kletečka-Pulker, behandelt. Sie betonte, es habe in den vergangenen Jahren eine Tendenz zur Verrechtlichung gegeben. Es gehe um Patientensicherheit, die „gerne“ eingeklagt werde. In den meisten Fällen erfolge dies zu Unrecht. Man dürfe das nicht persönlich nehmen. Viele Angehörige hätten Schuldgefühle oder könnten nicht loslassen. Im Mittelpunkt müsse aber immer der Patient oder der zu Pflegende im Heim stehen. Prinzipiell habe das Recht eine Schutz- und Konfliktlösungsfunktion und sollte einen Interessenausgleich schaffen.
Pflege ist nicht altruistisches „Lieb-sein“
Die Leiterin des Fachbereichs Pflegewissenschaften der Karl Landsteiner Universität in Krems, Hanna Mayer, forderte bei der Pflege Professionalität, Fachwissen gepaart mit einer fürsorglichen Grundhaltung ein. Die pflegende Person müsse interagieren mit dem Patienten. Ohne diese Interaktion sei keine akkurate Pflegediagnose möglich. Oft änderten sich die Bedingungen während der Pflege. Der Patient entwickelt eine steigende Vulnerabilität, was zu einer veränderten Abhängigkeit führt. Dies dürfe aber nicht bedeuten, dass dem zu Betreuenden seine Autonomie abgesprochen werde. Selbstbestimmung sei kein statischer Zustand, verlaufe nicht linear und ändere sich, gleich einer Welle. Es gehe um informatives Verstehen und situatives Verständnis in der Pflege. Im Moment der Begegnung müsse man „da sein“, bereit sein, das „Wellbeing“ in der personenzentrierten Praxis jeden Tag neu zu kreieren. Diese Praxis sieht Mayer gefährdet durch das hierarchische System, das eine personenzentrierte Pflege oft verhindert.
Suizidalität ist Ausdruck einer seelischen Krise
Sind Autonomie und Demenz ein Widerspruch? Martina Schmidhuber von der Karl-Franzens-Universität in Graz appellierte, Demenz nicht als Tsunami zu sehen, der alles überrollen wird. Demenz bedeute auch nicht, dass ein Mensch abgeschoben werden muss. Sie stellte auch die Patientenverfügung am Beispiel eines Demenzerkrankten infrage, der als „Gesunder“ diese unterzeichnete und als Demenzkranker forderte: „nicht tot machen“. Ist der natürliche Wille höher zu bewerten als die Patientenverfügung? Schmidhuber zitiert den Sohn dieses Demenzkranken, der meinte „ich möchte weinen, er (der Vater) fühlt sich wohl“. Autonomie ist, so Schmidhuber, keine Alles-oder-nichts-Entscheidung.
Verkürztes Autonomieverständnis in der Gesellschaft
Raimund Klesse, Facharzt für Psychiatrie in Chur, nimmt in der Gesellschaft ein verkürztes Autonomieverständnis wahr. Die Forschungsergebnisse sämtlicher Disziplinen wie Anthropologie, Entwicklungspsychologie und Bindungsforschung seien sich einig: Autonomie muss immer in Beziehung zur Hilfe anderer Menschen gesetzt werden. „Der Mensch ist von Natur aus ein soziales Wesen.“ Der Mensch befinde sich von Geburt an in einer Abhängigkeit, könne als Neugeborenes nicht alleine überleben. In der Familie lerne er Werte und Techniken. Das Kind vertraue auf Hilfe, die Familie sei sicherer Hafen und sichere Basis. „Fürsorge und sichere Bindung sind Grundlage jeder Autonomie“, ist Klesse überzeugt.
Suizidalität sei der Ausdruck einer seelischen Krise. Der Mensch an sich wolle sich nicht töten, ringe bis zum Schluss, so Klesse. Gehe in einer Gesellschaft die Wertschätzung für alte Menschen zurück, komme es zu körperlichen und psychischen Einschränkungen, sei der assistierte Suizid eine Alternative für alte Menschen. Klesse spricht von einer suizidalen Epidemie von alten Menschen in der Schweiz. Es gebe bereits viel mehr assistierte Suizide als „normale“. Das Schweizer Gesundheitssystem sehe es aber nicht als Aufgabe, diese in ihr Suizid-Präventionsprogramm aufzunehmen. „Das müssten die Palliativanbieter übernehmen.“ Klesse sieht viele Aspekte der helfenden Beziehung: Das Gespräch als heilender Faktor, die Ich-du-Beziehung und einfach der Satz: „Gut, dass du da bist“ wirkten oft Wunder. Helfer müssten um die Natur des Menschen wissen, ruhige Zuversicht verbreiten, dass es eine Lösung gibt.
„Ich will nicht leiden“
Der ausgebildete Diplom-Krankenpfleger und Soziologe Patrick Heindl vom AKH Wien nahm sich der Rolle der Angehörigen bei nicht einwilligungsfähigen Patienten an. Es sei oft schwer, eine Patientenverfügung zu interpretieren, wenn in dieser der Satz „ich will nicht leiden“ als Kriterium angeführt wird. Auch die Angehörigen seien oft überfordert, weil sie sich selbst in einem Ausnahmezustand befänden, eine passive Rolle einnehmen oder aggressiv werden. Aufgrund der medizinischen Möglichkeiten könne ein Patient auch dank der Geräte sehr lange am Leben gehalten werden, wenn es von den Angehörigen gewünscht werde. Es sei wichtig, die Angehörigen als Teil des Behandlungskomplexes zu sehen und sie entsprechend einzubinden und zu betreuen.
Dieser Artikel wurde IMABE dankenswerter Weise von der Wochenzeitung "Die Tagespost" zur Verfügung gestellt.
Hinweis: Die Vorträge des IMABE-Symposiums Der selbstbestimmte Patient. Herausforderungen in der Praxis (20.10.2023 in Wien) werden in einem Tagungsband veröffentlicht und in der Audiothek zum Nachhören bereitgestellt.