Der deutsche Verein Sterbehilfe, der vom Hamburgs Ex-Justizsenator Roger Kusch gegründet wurde, hat nach eigenen Angaben einem 83-jährigen Mann im Seniorenheim zum Suizid verholfen. Laut Medienberichte sollen bereits 24 Personen in der Corona-Zeit in Deutschland Beihilfe zum Suizid in Anspruch genommen haben (vgl. Ärztewoche, online 9.7.2020). Mitten in das derzeit bestehende gesetzliche Vakuum hinein wollen Sterbehilfevereine nun Fakten schaffen. Ende Februar 2020 hatte das Deutsche Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in einem umstrittenen Urteil das Verbot der geschäftsmäßigen Suizidbeihilfe aufgehoben. Nun ist der Gesetzgeber gezwungen, Suizid-Beihilfe innerhalb enger Spielräume zu regeln. Die Debatte dazu nimmt Fahrt auf (vgl. Bioethik aktuell, 8.7.2020).
Der Verein Sterbehilfe fordert, dass sämtliche Alten- und Pflegeheime ihre Hausordnungen so ergänzen müssten, dass das „das Grundrecht auf Suizid und das Grundrecht auf Suizidhilfe gemäß dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 2020 jederzeit ausgeübt werden können“.
Die Deutsche Stiftung Patientenschutz erklärte hingegen, dass kein Pflegeheimbetreiber in Deutschland dazu gezwungen werden kann, organisiertem Suizid Tür und Tor zu öffnen. „Das bleibt allein eine individuelle Entscheidung des Vertragsrechtes zwischen Bewohner und stationärem Pflegedienst“, sagt Vorstand Eugen Brysch (vgl. Deutsches Ärzteblatt, online 6.6.2020). Darüber hinaus mahnte er die Politik, kommerzielle Selbstötungsanbieter strafrechtlich in den Blick zu nehmen. „Schließlich hat auch das Bundesverfassungsgericht deutlich gemacht, dass der Gesetzgeber frei ist, hier Einhalt zu gebieten.“
Ein Psychiater des Vereins Sterbehilfe musste sich 2017 vor Gericht verantworten. Er hatte zwei lebensmüden, aber nicht schwer kranken älteren Frauen tödliche Medikamente zwecks Suizids bereitgestellt (vgl. Bioethik aktuell, 6.9.2017). Sie mussten dafür 2.000 Euro bezahlen.
Der an der Universität Gießen lehrende Professor für Öffentliches Recht, Steffen Augsberg, attestierte dem BVerfG, es habe ein „zugespitztes Verständnis von Autonomie“ formuliert und zugleich seine Haltung „dürftig begründet“. Letztlich bleibe nun nur eine gesetzliche Ausgestaltung über das Strafrecht. Der Gesetzgeber sollte dabei „Bedingungen schaffen, um Autonomie überprüfen“ zu können, wobei die juristische Nachvollziehbarkeit dabei „an ihre Grenze stoße“. Augsberg, der auch Mitglied des Deutschen Ethikrats ist, erinnerte daran, dass die Rechtsordnung vom Gedanken „in dubio pro vita“ – im Zweifel für das Leben – geprägt sei.
Die grüne Bundestagsabgeordnete und Psychiaterin Kirsten Kappert-Gonther kritisiert, dass das Bundesverfassungsgericht nicht ausreichend reflektiert habe, „wie sich Autonomie entwickelt“. In dem Urteil sei nichts darüber zu lesen, auf welchem Wege – etwa Diagnostik und Beratung – eine freiverantwortliche Entscheidung zum Suizid sichergestellt werden kann: „Man geht von Phantasiepersonen aus“. (vgl. Ärztewoche, online 9.7.2020)
„Nicht die Hilfestellung zum Suizid, sondern die Unterstützung bei der Entwicklung von Lebensperspektiven ist dringend geboten“, heißt in einer aktuellen Stellungnahme seitens der Deutschen Bischofskonferenz (Juni 2020). Das „individualistisch geprägte Verständnis von Autonomie“ des BVerfG sei ergänzungsbedürftig. "Aspekte des Angewiesen- und Ausgesetztseins, die dem Autonomie- und Menschenwürdebegriff Gehalt verleihen", würden "zu wenig berücksichtigt“. Wenn der Gesetzgeber der Akzentverschiebung in Bezug auf Menschenwürde und Selbstbestimmung unkritisch folge, müsse man mit „gravierenden Folgen für das gesellschaftliche Selbstverständnis und Zusammenleben, die weit über die Frage des Umgangs mit dem Suizid hinausgehen“, rechnen. Es wäre daher wünschenswert, „wenn sich der Gesetzgeber bei einer Neuregelung der Suizidassistenz die Zeit nimmt, sich mit der Akzentsetzung des BVerfG kritisch auseinanderzusetzen“.