Erst kürzlich hatte in Deutschland ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts Leipzig heftige Kritik hervorgerufen: Patienten sollen in Ausnahmefällen das Recht auf ein tödliches Medikament zum Zweck der Selbsttötung haben, sofern palliativmedizinische Maßnahmen bereits ausgeschöpft wurden (vgl. IMABE 3/2017). Die Urteilsbegründung dürfte erst in zwei Monaten vorliegen, inzwischen wurden jedoch Details zu den Hintergründen des tragischen Falles öffentlich.
Frau K. war nach einem Unfall querschnittgelähmt, musste beamtet werden, war jedoch weiterhin ansprechbar. Sie wurde Mitglied der geschäftsmäßig tätigen Sterbehelfer-Organisation Dignitas in der Schweiz. Diese stiftete Frau K. dazu an, einen Musterprozess herbeizuführen mit dem Ziel, ein Recht auf Erhalt einer tödlichen Medikamentendosis zu erkämpfen. Es ging in diesem Verfahren zu keinem Zeitpunkt um einen ärztlich assistierten Suizid, sondern von Anfang an um einen Suizid mit Unterstützung der umstrittenen Schweizer Organisation, der dann Anfang 2005 auch so in Zürich durchgeführt wurde. Die Frau habe dem Vorschlag, ein Rechtsverfahren einzuleiten, „sofort zugestimmt, ( ) obwohl das ihre Leidenszeit um einige Monate verlängerte“, gab der 85jährige Ludwig Minelli, Gründer von Dignitas, bei der Einvernahme an. In der ausführlichen Behandlungsgeschichte, mit der Frau K.s Ehemann nach ihrem Tod bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ging, ist weder von einer palliativmedizinischen Beratung noch Versorgung die Rede, berichtet die FAZ (online, 11.3.2017).
Das Leipziger Urteil kommt den Befürwortern einer Liberalisierung der Sterbehilfe gelegen. Derzeit sind 13 Verfassungsbeschwerden gegen das Verbot der Suizidbeihilfe als Dienstleistung in Deutschland anhängig. Ende 2015 hatte der Deutsche Bundestag im § 217 des Strafgesetzbuches die sog. geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung ausdrücklich verboten (vgl. IMABE 11/2015). Es drohen bis zu drei Jahre Haft. Bis Ende April soll der Deutsche Bundestag zu den Beschwerden Stellung nehmen. Sie kommen u. a. von Sterbehilfe-Vereinen, denen das Gesetz zu wenig liberal ist. Aber auch ein aus renommierten Ärzten bestehendes Arbeitsbündnis Kein assistierter Suizid in Deutschland! wandte sich an die Richter. Sie halten das Gesetz für zu wenig restriktiv. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in Karlsruhe will darüber bis Jahresende entscheiden.
In die aktuelle Debatte mischen sich inzwischen neue Töne, die die ökonomischen Vorteile des assistierten Suizids unterstreichen. So tritt der Münchner Anwalt Johannes Fiala unter dem Titel Chance für Beitragssenkung durch Sterbehilfe (procontra, online, 16.2.2017 - ein Magazin, das sich an die Finanz- und Versicherungswirtschaft richtet) offen dafür ein, dass private Krankenversicherer (PKV) „zur Sterbehilfe beraten müssen“. Patienten, die freiwillig auf lebensverlängernde Therapien verzichten, könnten mit „Leistungen“ belohnt werden - etwa durch geringere Beitragszahlungen.
Außerdem sollten die Versicherungsnehmer laut Fiala darauf hingewiesen werden, dass lebensverlängernde Behandlung mit künstlicher Ernährung unter bestimmten Umständen nicht mehr bezahlt würden. Wenn die PKV etwa „jahrelang sterbenskranke Demente künstlich ernährt“, würden sie ungerechtfertigt Geld ausgeben und außerdem „einen Gnadenakt und Akt der Erlösung“ verhindern, heißt es in dem Kommentar.
Für IMABE-Direktor Johannes Bonelli, selbst Internist, gehen solche Aussagen an der Wirklichkeit vorbei: „Demente können, wenn sie wirklich sterbenskrank sind, auch nicht durch künstliche Ernährung jahrelang am Leben erhalten werden“, so der Mediziner. Studien hätten gezeigt, dass solche Patienten unter künstlicher Ernährung nicht länger leben als ohne. Und: „Chronisch kranke Menschen mit Demenz sind nicht per se Sterbende, sie haben ein Recht auf optimale Versorgung und lebenserhaltende Maßnahmen“, betont Bonelli. Es sei bedenklich, wenn Juristen Sterbehilfe auf irrige Weise umdefinieren, und aus den bestehenden Gesetzen einen Strick drehen, etwa mit der Aussage, man könne man Patienten ins künstliche Koma versetzen (Palliative Sedierung), dabei gleichzeitig ihre Ernährung untersagen, um so den Tod „ganz legal“ herbeizuführen. Diese Annahme ist irrig, betont der IMABE-Direktor.
„Sowohl die palliative Sedierung bei großen Schmerzen als auch die Reduktion oder der Abbruch von künstlicher Ernährung haben natürlich ihren Platz im Umgang mit Sterbenden, um Symptome zu lindern und den Sterbeprozess nicht unnötig zu verlängern“, erklärt der Wiener Internist und ehemalige Ärztliche Direktor des Krankenhauses St. Elisabeth. IMABE hat dazu eigene Empfehlungen für Ärzte erarbeitet (vgl. Konsens. Therapiereduktion und Therapieverzicht 2006). „Wer diese Maßnahmen jedoch nicht medizinisch indiziert oder mit Tötungsabsicht einsetzt, bewegt sich im ethischen Sumpf der Beihilfe zur Selbsttötung oder Tötung auf Verlangen“, differenziert Bonelli.
Zu meinen, dass ein Verbot der Suizidbeihilfe die Palliativmedizin kriminalisiere, gehe komplett an der medizinischen Praxis vorbei, betont auch der Palliativmediziner und Medizinethiker Stephan Sahm in der FAZ am Sonntag (28.3.2017). Wie bei jedem medizinischen Eingriff kann es zu einer in Kauf genommenen Lebensverkürzung kommen, etwa bei der Gabe von Schmerzmitteln. Was dabei laut Sahm aber außer Acht gelassen wird, ist, dass eine kunstgerechte Schmerztherapie viel seltener unerwünschte, oder gar tödliche Folgen hervorruft als andere Behandlungen wie etwa die Operation einer Gallenblase, Eingriffe an der Bauchspeicheldrüse oder die Verschreibung von Mitteln zur Behandlung von Störungen des Herzrhythmus. „Niemand käme auf die Idee, Ärzten, die zu einer dieser Maßnahmen greifen, auch nur den Hauch einer Tötungsabsicht zu unterstellen“, so der Palliativmediziner.
Auch die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) hält fest, dass Deutschland keine neuerliche Revision der gesetzlichen Regelung brauche: „Grundsätzlich bestehen zwischen einer auf die Herbeiführung des Todes zielenden Suizidbeihilfe und einer Palliativversorgung von schwer kranken Menschen deutliche Unterschiede, die klar erkennbar und benennbar sind“, heißt es in der Stellungnahme der DGP (online, 17.2.2017).