Dass in Indien und China Millionen Frauen fehlen, weil sie abgetrieben wurden, ist bekannt. Der aktuelle UNFPA-Report Sex Imbalances at birth: Current Trends, Consequences and Policy Implications, August 2012 spricht davon, dass selektive Abtreibungen und Kindesmorde in Asien 117 Millionen Mädchenleben gekostet hätten. Allein China und Indien seien für 85 Millionen verhinderte Frauenleben verantwortlich, trotz Wirtschaftsboom. In China liegt das Verhältnis zwischen Buben und Mädchen bei 118 zu 100, in einigen Gegenden kommen sogar schon über 130 Buben auf 100 Mädchen. Ein normales Geschlechterverhältnis liegt laut WHO bei 102 bis 106 Buben zu 100 Mädchen.
Inzwischen kann es offenbar auch in Europa und im benachbarten Kaukasus für ein Ungeborenes ein todbringender Makel sein, weiblich zu sein. In Armenien und Aserbaidschan kommen auf 100 Mädchen derzeit etwa 115 Buben zur Welt, in Albanien sind es nach den gerade erst veröffentlichten Geburtenstatistiken 112 Buben - das sind in etwa indische Zustände. Auch in Albanien, wo seit dem Fall des Kommunismus Abtreibung bis zur 12. Schwangerschaftswoche straffrei ist, gelten Buben kulturell mehr als Mädchen. Laut Demografieexperte Christopher Guilmoto vom Pariser Forschungsinstitut für Entwicklung (IRD) steht Albanien in Europa an der traurigen Spitze, gefolgt von drei weiteren Länder des Balkans: Kosovo (110 Buben), Montenegro (109 Buben) und Mazedonien. Die drei letztgenannten Länder sind EU-Beitrittskandidaten.
Es ist paradox, aber der medizinische Fortschritt führte dazu, dass Eltern sich den traditionellen Wunsch nach Buben erfüllen können und Mädchen diskriminiert werden. Das Absurde sei, sagt die Grünen-Europaabgeordnete Franziska Brantner, dass die EU die Familienplanung in China kritisieren dürfe, weil China als Entwicklungsland gelte. Das sei bei den Balkanländern, mit denen die EU verhandelt, anders. Hier falle Abtreibung in den Bereich der Gesundheitspolitik - und nicht der Menschenrechtspolitik. „Die EU kann politisch Druck machen, rechtlich hat sie gegen die Beitrittskandidaten mit zweifelhafter Abtreibungspolitik aber keine Handhabe“, kritisiert Brantner, berichtet die Süddeutsche Zeitung (online 1. 1. 2013). Das könnte sich ändern, denn im Frauenausschuss des Europäischen Parlamentes wächst die Empörung.
Innerhalb der Europäischen Union ist die Praxis offenbar weiter verbreitet als bisher angenommen. Im Oktober 2012 wurde ein dänischer Abtreibungstourismus zum Nachbarn Schweden publik (vgl. diestandard, online 22. 10. 2012). In Dänemark gilt die Fristenregelung bis zu 12. Woche. Zahlreiche Däninnen waren zur Abtreibung über die Grenze gereist, als sie etwa in der 14. Woche erfahren hatten, dass sie ein Mädchen erwarteten. Schweden hatte 2009 entschieden, dass die geschlechtsselektive Abtreibung bis zur 18. Woche erlaubt sei (vgl. Bioethik aktuell, 16.6.2009). Auch aus den Niederlanden und Belgien gebe es, so EU-Frauenpolitikerinnen, Berichte über den Trend „Bitte nur kein Mädchen“, ebenso in Großbritannien (April 2012: Skandale um Abtreibungspraxis brechen nicht ab) und Kanada (Februar 2012: Ärzte wehren sich gegen Abtreibung weiblicher Föten).
„In Ländern, die seit Jahrzehnten eine laxe Abtreibungspraxis akzeptiert haben, ist die Selektion nach dem Geschlecht wohl nur die Spitze des Eisberges“, sagt IMABE-Geschäftsführerin Susanne Kummer. Es sei schwer vermittelbar, einerseits mit der Nicht-Diskriminierung bei Frauen zu argumentieren und zugleich die Diskriminierung von Behinderten, die in Österreich bis zur Geburt abgetrieben werden dürfen, zuzulassen, kritisiert die Ethikerin. Der frauenfeindliche Genderzid sollte daher Anstoß für eine tiefere gesellschaftliche Debatte über den Wert und die Würde jedes Menschen in jeder Lebensphase sein, fordert Kummer.