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Neurowissenschaft

Dr. Jan Stejskal
Stand: März 2011

Die Neurowissenschaft schließt als eine integrative Disziplin alle Fachgebiete ein, die sich mit dem Studium des gesunden sowie kranken Nervensystems befassen. Die Entwicklung der Neurowissenschaft wurde in den vergangenen Jahrzehnten durch zwei Voraussetzungen ermöglicht: erstens durch die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit anderen wissenschaftlichen Fachgebieten, zweitens durch den gewaltigen technischen Fortschritt und die Erhebung neuer Daten. Die Zusammenarbeit betraf nicht nur herkömmliche experimentelle Disziplinen wie Medizin oder Biologie, sondern bezog auch die Geisteswissenschaften mit ein. In den 1960er und 1970er Jahren kam es zur Gründung diverser Fachgesellschaften wie International Brain Research Organization (IBRO), es begann das Neuroscience Research Programm at the Massachusetts Institute of Technology in Cambridge und es entstand die Society for Neuroscience. Als Beispiel für interdisziplinäre Zusammenarbeit mit den Humanwissenschaften sei Eric Kandel genannt, der als Historiker und Mediziner im Jahre 2000 mit dem Nobelpreis für Physiologie ausgezeichnet wurde. Als Leiter der Abteilung für Psychiatrie an der Columbia University fungierte der gebürtige Österreicher als Herausgeber mehrerer Lehrbücher, die sich beim Studium der Neurowissenschaft an einer integrativen Perspektive der Neurobiologie orientieren.

Als zweiter Faktor wurde bereits der technische Fortschritt erwähnt, der in erster Linie durch die neuen Möglichkeiten der „Neuroimagination“ (bildgebende Darstellung neuronaler Prozesse) in Gang kam. Die Neuroimagination wurde zunächst durch diverse Techniken wie zerebrale Angiographie (entwickelt in der 1930er Jahren durch den Nobelpreisträger António Egas Moniz) und die cerebrale Ventrikulographie und Elektroenzephalographie ermöglicht, doch waren diese Verfahren methodisch begrenzt und ungenau. Als Schlüsselereignis in der weiteren Entwicklung galt die Entwicklung der Computertomographie durch Allan Cormack und Godfrey Hounsfield (Nobelpreis 1979) und später auch der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT, auch fMRI) durch Paul Lautenbur und Peter Mansfield (Nobelpreis 2003). Diese Methode macht sich biochemische Eigenschaften des Blutes zu Nutze. Aufgrund hämodynamischer Veränderungen in Abhängigkeit von neuronaler Aktivität infolge von motorischen oder sensorischen Reizen können unterschiedliche kognitive, emotionale oder motivatorische Modelle erstellt werden. Die EPI (Echo Planar Imaging) ermöglicht – als Variante der fMRT – die Aufnahme besonders schneller Sequenzen und lokalisiert anhand von Unterschieden in der Oxigenierung des Blutes (BOLD) die Signale topographisch genauer. Gemeinsam mit der Positron Emission Tomography (PET) und der Magnetenzephalographie (MEG) stellen diese Methoden die Grundlage für das Entstehen einer neuen Subdisziplin dar, welche wir als kognitive Neurowissenschaft bezeichnen.

Die neuen Erkenntnisse der neuronalen Synapsen (Verbindungen) waren von großer Bedeutung, um die bisher „statische“ Neuroanatomie zu ergänzen, sie halfen mit, die Bedeutung der einzelnen Teile, welche die Funktionalität des Nervensystems beherrschen, besser zu verstehen. Die neuroanatomischen Studien brachten aber auch mehrere Probleme mit sich: Erstens wurden sie an Tieren durchgeführt und auf den Menschen nachträglich übertragen, zweitens wiesen sie auf eine viel größere Komplexität des Gehirns hin als ursprünglich angenommen; und drittens handelte sich um überwiegend morphologisch ausgerichtete Experimente, die kaum direkte Neuentdeckungen bzgl. der Funktionalität lieferten. Paradoxerweise lässt sich somit festzustellen, dass wir heutzutage trotz der holistischen Ansätze (Neurobiology of Systems) zwar mehr als je zuvor über das neuronale Gewebe wissen, zugleich aber die systemische Anschauung über die Funktion des gesamten Gehirns aus dem Auge verlieren.

Immer wieder gerieten die neurowissenschaftlichen Erklärungsversuche in Verlegenheit, sobald sie versuchten, die Grundlagen der Erkrankungen des Nervensystems zu erklären. Es wurden einerseits neue Erkenntnisse über die genetischen, molekularen, zellulären und subzellulären Mechanismen welche das Nervensystem beherrschen gewonnen. Andererseits zeigten die Möglichkeiten der Neuroimagination, dass die Aktivierung und Deaktivierung partieller Hirnanteile nur schwierig in einen Kontext der gesamten Hirnfunktionalität einzubetten ist. Somit kann die Frage: „Wie funktioniert das Gehirn?“ nach wie vor nicht klar beantwortet werden.

Daneben wurde die Neurowissenschaft auch durch enge Zusammenarbeit mit der Psychiatrie wesentlich vorangetrieben. Die Psychiatrie beschäftigt sich gewissermaßen als Hybrid zwischen der experimentellen Wissenschaft und der Humanwissenschaft mit Problemen und Krankheiten des Menschen, die das Individuum in seiner Ganzheit betreffen. Die Psychiatrie machte selber als wissenschaftliche Disziplin eine Transformation durch. Vorangetrieben durch die Entwicklung der Psychopharmakologie und Psychotherapie richtete sie ihr Augenmerk vermehrt auf die Anwendung der Neurobiologie bei der Analyse der psychischen Krankheiten. Dadurch wurde die Psychiatrie zur zentralen Disziplin für das Studium des Gehirns für Fragen nach seiner Funktion, nach seiner Erkrankung, Heilung usw. Neben der Zusammenarbeit mit der Psychiatrie wurde die Neurowissenschaft durch die Deklaration der sog. „Decade of the Brain“ (1990 bis 1999) vorangetrieben, was sich in Investitionen in neue Forschungsprojekte auswirkte. Diese Deklaration brachte auch andere positive Effekte mit sich, indem sie im Kampf gegen die seelischen Krankheiten ihr Augenmerk auf das Verständnis des menschlichen Individuums und Verbesserung seiner Lebensbedingungen lenkte. Die Tatsache, dass Neurowissenschaft als überwiegend nicht-invasive Methode das Studium direkt am Menschen betrieb, wurde in Anbetracht des wachsenden Widerstandes gegen Tierexperimente von der Öffentlichkeit mit Wohlgefallen aufgenommen. Während dieser Zeitperiode wurde erkannt, dass das Studium des Nervensystems nur im engen Dialog mit Ethik und sozialen Wissenschaften betrieben werden kann.

Darüber hinaus wird die Wissenschaft mit Begriffen wie Selbstbewusstsein, Freiheit sowie Urteilsvermögen konfrontiert, welche sie offensichtlich in Verlegenheit bringen. Für plakative Behauptungen, wie „Alles liegt im Gehirn“ besteht keine Evidenz.

Im Gegensatz zur vorherrschenden wissenschaftlichen Kultur, welche auf alles möglichst klare Antworten zu liefern verspricht, stößt die Neurowissenschaft bereits an eigene methodische Grenzen. In diesem Zusammenhang wurden neue Hilfsdisziplinen wie die „Neurophilosophie“ oder „Neuroanthropologie“ geschaffen sowie die Einbindung der Neurowissenschaft in die eigentliche bioethische Diskussion forciert, welche sich nicht auf die Anwendung der Technik in der Neurowissenschaft beschränkt. Es zeigt sich, dass auch andere wissenschaftliche Fachgebiete wie Anthropologie, Moralphilosophie oder Psychologie zur unerlässlichen Stütze wurden. Die Neurowissenschaft scheint somit vor der neuen Herausforderung zu stehen, eigene Grenzen anzuerkennen, den integrativen Ansatz wahrzunehmen und mit der Philosophie in einen Dialog zu treten. Voraussetzung dafür ist, dass die Geisteswissenschaft (insbesondere die Philosophie) als eine authentische Quelle des Wissens anerkannt wird. Dies muss erst von einer breiteren Reflexion innerhalb der wissenschaftlichen Welt begleitet werden, um auf eine gemeinsame methodische Basis der experimentellen als auch der Geisteswissenschaften hinzuarbeiten.

Bekanntlich entstanden die experimentellen Wissenschaften zur Zeit der Renaissance. Man versprach sich davon ein besseres Verständnis, der fassbaren Realität, sie zu beeinflussen und so sie in den Dienst für menschliche Bedürfnisse stellen zu können. Zu diesem Zwecke wurde die mathematische Methode zur Messung der Ergebnisse und Wiedergabe der Experimente herangezogen. Obwohl die Mathematik exakte Gesetze und Modelle bereitstellt, versagt sie in Beurteilung der Realität, indem sie ihre qualitativen Aspekte zugunsten der quantitativen (messbaren) einbüßt. Der Positivismus des 19. Jahrhunderts versuchte die Wissenschaft von der Philosophie zu befreien, indem er die experimentelle Wissenschaft als einzige Quelle der Erkenntnis anerkannte und andere Zugänge verwarf. Somit ist nur jene Erfahrung gültig und wahr, welche messbar und erfassbar ist – die Realität soll ausschließlich auf das „Greifbare“ begrenzt werden. Da die Philosophie auf solche Entwicklungen ungenügend reagierte, floss der Positivismus in die wissenschaftliche Mentalität der Moderne ein. Das 20. Jahrhundert setzte sich mit diesem Konzept wiederholt auseinander, in manchen wissenschaftlichen Theorien (Relativitätstheorie, Gödelscher Unvollständigkeitssatz) wurden ihre Zweifel an sich selbst laut. Auch die Philosophie zeigte neue Perspektiven: Die Wissenschaft sei als menschliche Tätigkeit nur in einem gewissen Kontext zu verstehen. Es gibt sehr wohl verschiedene experimentelle Ansätze, aber das Kriterium der Wahrhaftigkeit richtet sich nicht nach quantitativer Messung, sondern nach wissenschaftlicher Evidenz und Methodik.

Die Neurowissenschaft arbeitet nicht nur mit messbaren und quantitativ erfassbaren Experimenten, sondern auch mit dem menschlichen Individuum und dessen subjektiven Eindrücken. Also ist auch die Technik der Neuroimagination nur begrenzt anwendbar, wenn eine Blutströmung in einzelnen Hirnarealen dem subjektiven Empfinden des Patienten gegenübersteht oder zugeordnet wir. Die Neuroimagination kann zwar das Nervensystem hervorragend erforschen, es wäre jedoch äußerst riskant, nur anhand der messbaren Resultate Rückschlüsse auf das menschliche Handeln und Empfinden zu ziehen. Obwohl die Neurowissenschaft die Korrelation von bewussten Handlungen mit Hirnaktivität, bzw. einzelnen Hirnregionen aufzudecken verspricht, ist sie andererseits mit Aspekten konfrontiert, die zwar ontologisch an das Gehirn gebunden sind (z. B. Bewusstsein), sich jedoch nicht auf das Gehirn reduzieren lassen. Insofern wäre es auch falsch, die menschliche Freiheit sowie den freien Willen nur als Resultat neurophysiologischer Prozesse aufzufassen, wie dies z. B. die Experimente des US-Physiologen Benjamin Libet (Libet-Experiment in den 1980er Jahren) nahelegen. Ihnen zufolge würden die Entscheidungen für Willkürbewegungen unbewusst im Gehirn vorbereitet und erst nachträglich (und illusorisch) vom Individuum für einen eigenen Willenentschluss gehalten. Diese Form der Interpretation ist Ausdruck eines reduktionistischen Naturalismus, da geistige Wirklichkeiten niemals rein auf physische Realitäten reduziert werden können. Die Begrenzung der menschlichen Freiheit durch physische Bedingtheiten stellt die Freiheit der Person nicht in Frage. Die Entwicklung der Neurowissenschaft zeigt, dass es dzt. klare konzeptuelle Begrenzungen sowie ultimative Fragen gibt, die aufgegriffen werden müssen: Fragen nach dem Menschen sowie Fragen, die die Wissenschaftstheorie selbst betreffen.

Referenzen

Giménez Amaya J. M., Anthropological and Ethical Dilemmas in the recent Development of Neuroscience, Imago Hominis (2010); 17: 179-186 

Pastor M. A., New Perspectives on the Interpretation of Human Brain Images, Imago Hominis (2010); 17: 187-191

Rager G., Brain and Free Will, Imago Hominis (2010); 17: 193-201

Schiepek G., Freiheit und Verantwortung - ein neurowissenschaftlicher Diskurs, Imago Hominis (2010); 17: 203-216

Quelle:

IMAGO HOMINIS 3/2010 Neuroscience and Ethics

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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