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Katholische Kirche zu Suizidbeihilfe und Tötung auf Verlangen (Euthanasie)

Dr. Notburga Auner
Stand: Mai 2014

Seit einigen Jahren wächst vor allem in Industrienationen der Druck, die Beihilfe zum Suizid bzw. Tötung auf Verlangen als Ausdruck von Selbstbestimmung und Mittel für einen "guten Tod" rechtlich durchzusetzen und anzuerkennen. Die Debatte ist auch in Österreich stärker in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerückt und fordert zur Stellungnahme heraus.

Die katholische Kirche hat wie wohl keine andere Institution eine jahrhundertealte Erfahrung in der Sorge um kranke Menschen, Leidende und Bedürftige sowie in der Begleitung von Sterbenden. Sie lehnt Beihilfe zum Suizid bzw. Tötung auf Verlangen dezidiert ab. Aus christlicher Sicht gibt es kein Recht auf Tötung, wohl aber den Anspruch auf ein menschenwürdiges Sterben.

Das Lehramt der Katholischen Kirche hat in drei wichtigen Dokumenten zu dieser Frage Stellung genommen: Im Jahr 1995 veröffentlichte Papst Johannes Paul II. die Enzyklika Evangelium vitae (EV), in der die Frage der Euthanasie behandelt, ihre Wurzeln aufgedeckt und ihre moralische Bewertung klargestellt wird sowie echte Alternativen aufgezeigt werden. Zuvor hatte bereits im Jahr 1980 die Kongregation der Glaubenslehre eine Erklärung zur Euthanasie (EE) abgegeben. Weiters widmet der Katechismus der Katholischen Kirche dem Thema „Euthanasie“ ein eigenes Kapitel.

Im folgenden werden Auszüge der Dokumente wiedergegeben.

2276 Menschen, die versehrt oder geschwächt sind, brauchen besondere Beachtung. Kranke oder Behinderte sind zu unterstützen, damit sie ein möglichst normales Leben führen können.

2277 Die direkte Euthanasie besteht darin, dass man aus welchen Gründen und mit welchen Mitteln auch immer dem Leben behinderter, kranker oder sterbender Menschen ein Ende setzt. Sie ist sittlich unannehmbar. Eine Handlung oder eine Unterlassung, die von sich aus oder der Absicht nach den Tod herbeiführt, um dem Schmerz ein Ende zu machen, ist ein Mord, ein schweres Vergehen gegen die Menschenwürde und gegen die Achtung, die man dem lebendigen Gott, dem Schöpfer, schuldet. Das Fehlurteil, dem man gutgläubig zum Opfer fallen kann, ändert die Natur dieser mörderischen Tat nicht, die stets zu verbieten und auszuschließen ist.

2278 Die Moral verlangt keine Therapie um jeden Preis. Außerordentliche oder zum erhofften Ergebnis in keinem Verhältnis stehende aufwendige und gefährliche medizinische Verfahren einzustellen, kann berechtigt sein. Man will dadurch den Tod nicht herbeiführen, sondern nimmt nur hin, ihn nicht verhindern zu können. Die Entscheidungen sind vom Patienten selbst zu treffen, falls er dazu fähig und imstande ist, andernfalls von den gesetzlich Bevollmächtigten, wobei stets der vernünftige Wille und die berechtigten Interessen des Patienten zu achten sind.

2279 Selbst wenn voraussichtlich der Tod unmittelbar bevorsteht, darf die Pflege, die man für gewöhnlich einem kranken Menschen schuldet, nicht abgebrochen werden. Schmerzlindernde Mittel zu verwenden, um die Leiden des Sterbenden zu erleichtern selbst auf die Gefahr hin, sein Leben abzukürzen, kann sittlich der Menschenwürde entsprechen, falls der Tod weder als Ziel noch als Mittel gewollt, sondern bloß als unvermeidbar vorausgesehen und in Kauf genommen wird. Die Betreuung des Sterbenden ist eine vorbildliche Form selbstloser Nächstenliebe; sie soll aus diesem Grund gefördert werden.

1. Zwischen Leidensvermeidung um jeden Preis und therapeutischem Übereifer

EV 64 Am anderen Ende seines Daseins steht der Mensch vor dem Geheimnis des Todes. Infolge der Fortschritte auf medizinischem Gebiet und in einem kulturellen Umfeld, das sich der Transzendenz zumeist verschließt, weist die Erfahrung des Sterbens heute einige neue Wesensmerkmale auf. Denn wenn die Neigung vorherrscht, das Leben nur in dem Maße zu schätzen, wie es Vergnügen und Wohlbefinden mit sich bringt, erscheint das Leiden als eine unerträgliche Niederlage, von der man sich um jeden Preis befreien muss. (...) Außerdem glaubt der Mensch, der seine wesentliche Beziehung zu Gott ablehnt oder vergisst, er sei sich selber Maßstab und Norm, und maßt sich das Recht an, auch von der Gesellschaft zu verlangen, sie solle ihm Möglichkeiten und Formen garantieren, damit er in voller und vollständiger Autonomie über sein Leben entscheiden könne. Es ist besonders der Mensch in den entwickelten Ländern, der sich so verhält: veranlasst fühlt er sich dazu auch durch die ständigen Fortschritte der Medizin und ihre immer mehr fortgeschrittenen Verfahren. Mit Hilfe äußerst spitzfindiger Systeme und Apparate sind Wissenschaft und ärztliche Praxis heute in der Lage, nicht nur für früher unlösbare Fälle eine Lösung zu finden und Schmerzen zu lindern oder zu beheben, sondern auch das Leben selbst im Zustand äußerster Schwäche zu erhalten und zu verlängern (...).

2. Wer nichts mehr leistet, ist nichts mehr wert

EV 64 In einem solchen Umfeld zeigt sich immer stärker die Versuchung zur Euthanasie, das heißt, sich zum Herrn über den Tod zu machen, indem man ihn vorzeitig herbeiführt und so dem eigenen oder dem Leben anderer „auf sanfte Weise“ ein Ende bereitet. In Wirklichkeit stellt sich, was als logisch und menschlich erscheinen könnte, wenn man es zutiefst betrachtet, als absurd und unmenschlich heraus. Wir stehen hier vor einem der alarmierendsten Symptome der „Kultur des Todes“, die vor allem in den Wohlstandsgesellschaften um sich greift, die von einem Leistungsdenken gekennzeichnet sind, das die wachsende Zahl alter und geschwächter Menschen als zu belastend und unerträglich erscheinen lässt. Sie werden sehr oft von Familien und von der Gesellschaft isoliert, deren Organisation fast ausschließlich auf Kriterien der Produktion und Leistungsfähigkeit beruht, wonach ein hoffnungslos arbeitsunfähiges Leben keinen Wert mehr hat.

3. Euthanasie heißt, den Tod bewusst durch Handlung oder Unterlassung herbeizuführen

EV 65 Für ein korrektes sittliches Urteil über die Euthanasie gilt es zunächst, diese klar zu definieren. Unter Euthanasie im eigentlichen Sinn versteht man eine Handlung oder Unterlassung, die ihrer Natur nach und aus bewußter Absicht den Tod herbeiführt, um auf diese Weise jeden Schmerz zu beenden. »Bei Euthanasie dreht es sich also wesentlich um den Vorsatz des Willens und um die Vorgehensweisen, die angewandt werden«.

EE (II) Schließlich wird das Wort in einem noch engeren Sinn verstanden, und zwar: töten aus Barmherzigkeit, in der Absicht, extreme Schmerzen endgültig zu beenden oder um Kindern mit Geburtsfehlern, unheilbar Kranken oder Geisteskranken eine Verlängerung ihres harten Lebens zu ersparen, das vielleicht noch etliche Jahre dauern würde und den Familien und der Gesellschaft eine allzu schwere Last aufbürden könnte.

4. Der Verzicht auf unverhältnismäßige Heilmittel ist ethisch legitim und daher weder Euthanasie noch Beihilfe zum Suizid

EV 65 Von ihr zu unterscheiden ist die Entscheidung, auf „therapeutischen Übereifer“ zu verzichten, das heißt, auf bestimmte ärztliche Eingriffe, die der tatsächlichen Situation des Kranken nicht mehr angemessen sind, weil sie in keinem Verhältnis zu den erhofften Ergebnissen stehen, oder auch, weil sie für ihn und seine Familie zu beschwerlich sind. In diesen Situationen, wenn sich der Tod drohend und unvermeidlich ankündigt, kann man aus Gewissensgründen „auf (weitere) Heilversuche verzichten, die nur eine ungewisse und schmerzvolle Verlängerung des Lebens bewirken könnten, ohne dass man jedoch die normalen Bemühungen unterlässt, die in ähnlichen Fällen dem Kranken geschuldet werden“. Sicherlich besteht die moralische Verpflichtung sich pflegen und behandeln zu lassen, aber diese Verpflichtung muss an den konkreten Situationen gemessen werden: das heißt, es gilt abzuschätzen, ob die zur Verfügung stehenden therapeutischen Maßnahmen objektiv in einem angemessenen Verhältnis zur Aussicht auf Besserung stehen. Der Verzicht auf außergewöhnliche oder unverhältnismäßige Heilmittel ist nicht gleichzusetzen mit Selbstmord oder Euthanasie: er ist vielmehr Ausdruck dafür, dass die menschliche Situation angesichts des Todes akzeptiert wird.

5. Behandlungsabbruch und Therapiezieländerung unterliegen klaren ethischen Prinzipien

EE (IV) Jeder ist verpflichtet, für seine Gesundheit zu sorgen und sicherzustellen, dass ihm geholfen wird. Jene aber, denen die Sorge für die Kranken anvertraut ist, müssen ihren Dienst mit aller Sorgfalt verrichten und die Therapien anwenden, die nötig oder nützlich erscheinen. Muss man nun unter allen Umständen alle verfügbaren Mittel anwenden? Die Anwendung „außerordentlicher“ Mittel könne man keinesfalls verpflichtend vorschreiben. Damit diese allgemeinen Grundsätze leichter angewendet werden können, dürften die folgenden Klarstellungen hilfreich sein:

  • Sind andere Heilmittel nicht verfügbar, darf man mit Zustimmung des Kranken Mittel anwenden, die der neueste medizinische Fortschritt zur Verfügung gestellt hat, auch wenn sie noch nicht genügend im Experiment erprobt und nicht ungefährlich sind. Der Kranke, der darauf eingeht, kann dadurch sogar ein Beispiel der Hochherzigkeit zum Wohl der Menschheit geben.
  • Ebenso darf man die Anwendung dieser Mittel abbrechen, wenn das Ergebnis die auf sie gesetzte Hoffnung nicht rechtfertigt. Bei dieser Entscheidung sind aber der berechtigte Wunsch des Kranken und seiner Angehörigen sowie das Urteil kompetenter Fachärzte zu berücksichtigen. Diese können mehr als andere eine vernünftige Abwägung vornehmen, ob dem Einsatz an Instrumenten und Personal die erwarteten Erfolge entsprechen und ob die angewandte Therapie dem Kranken nicht Schmerzen oder Beschwerden bringt, die in keinem Verhältnis stehen zu den Vorteilen, die sie ihm verschaffen kann.
  • Es ist immer erlaubt, sich mit den Mitteln zu begnügen, welche die Medizin allgemein zur Verfügung stellt. Niemand kann daher verpflichtet werden, eine Therapie anzuwenden, die zwar schon im Gebrauch, aber noch mit Risiken versehen oder zu aufwendig ist. Ein Verzicht darauf darf nicht mit Selbstmord gleichgesetzt werden: es handelt sich vielmehr um ein schlichtes Hinnehmen menschlicher Gegebenheiten; oder man möchte einen aufwendigen Einsatz medizinischer Technik vermeiden, dem kein entsprechender zu erhoffender Nutzen gegenübersteht: oder man wünscht, der Familie bzw. der Gemeinschaft keine allzu große Belastung aufzuerlegen.
  • Wenn der Tod näher kommt und durch keine Therapie mehr verhindert werden kann, darf man sich im Gewissen entschließen, auf weitere Heilversuche zu verzichten, die nur eine schwache oder schmerzvolle Verlängerung des Lebens bewirken könnten, ohne dass man jedoch die normalen Hilfen unterlässt, die man in solchen Fällen einem Kranken schuldet. Dann liegt kein Grund vor, dass der Arzt Bedenken haben müsste, als habe er einem Gefährdeten die Hilfe verweigert.

6. Palliative Care als Schlüssel für eine Kultur der Sterbens und die legitime Gabe von schmerzlindernen Mitteln trotz Lebensverkürzung

EV 65 Besondere Bedeutung gewinnen in der modernen Medizin die sogenannten „palliativen Behandlungsweisen“, die das Leiden im Endstadium der Krankheit erträglicher machen und gleichzeitig für den Patienten eine angemessene menschliche Begleitung gewährleisten soll. In diesem Zusammenhang erhebt sich unter anderem das Problem, inwieweit die Anwendung der verschiedenen Schmerzlinderungs- und Beruhigungsmittel, um den Kranken von Schmerz zu befreien, erlaubt ist, wenn das die Gefahr einer Verkürzung des Lebens mit sich bringt. Auch wenn jemand, der das Leiden aus freien Stücken annimmt, indem er auf schmerzlindernde Maßnahmen verzichtet, um seine volle Geistesklarheit zu bewahren und, wenn er gläubig ist, bewusst am Leiden des Herrn teilzuhaben, in der Tat des Lobes würdig ist, so kann diese „heroische“ Haltung doch nicht als für alle verpflichtend angenommen werden. (...) Doch „darf man den Sterbenden nicht ohne schwerwiegenden Grund seiner Bewusstseinsklarheit berauben“: die Menschen sollen vor dem herannahenden Tod in der Lage sein, ihren moralischen und familiären Verpflichtungen nachkommen zu können, und sich vor allem mit vollem Bewusstsein auf die endgültige Begegnung mit Gott vorbereiten können.

7. Die verzweifelte Bitte nach dem Tod ist häufig ein Ruf nach Hilfe und Liebe

EE (II) Es kann vorkommen, dass wegen lang anhaltender oder fast unerträglicher Schmerzen, aus psychischen oder anderen Gründen jemand meint, er dürfe berechtigterweise den Tod für sich selbst erbitten oder ihn anderen zufügen. Obwohl in solchen Fällen die Schuld des Menschen vermindert sein oder gänzlich fehlen kann, so ändert doch der Irrtum im Urteil, dem das Gewissen vielleicht guten Glaubens unterliegt, nicht die Natur dieses todbringenden Aktes, der in sich selbst immer abzulehnen ist. Man darf auch die flehentlichen Bitten von Schwerkranken, die für sich zuweilen den Tod verlangen, nicht als wirklichen Willen zur Euthanasie verstehen: denn fast immer handelt es sich um angstvolles Rufen nach Hilfe und Liebe. Über die Bemühungen der Ärzte hinaus hat der Kranke Liebe nötig, warme menschliche und übernatürliche Zuneigung, die alle Nahestehenden, Eltern und Kinder, Ärzte und Pflegepersonen ihm schenken können und sollen.

8. Beihilfe zum Selbstmord ist kein Akt der Liebe, sondern entspringt einem falsch verstandenen Mitleid

EV 65 Die Selbstmordabsicht eines anderen zu teilen und ihm bei der Ausführung durch die sogenannte „Beihilfe zum Selbstmord“ behilflich zu sein, heißt Mithelfer und manchmal höchstpersönlich Täter eines Unrechts zu werden, das niemals, auch nicht, wenn darum gebeten worden sein sollte, gerechtfertigt sein kann. „Es ist niemals erlaubt – schreibt mit überraschender Aktualität der hl. Augustinus –, einen anderen zu töten: auch wenn er es wollte, ja selbst, wenn er, zwischen Leben und Tod schwebend, fleht, ihm zu helfen, die Seele zu befreien, die gegen die Fesseln des Leibes kämpft und sich von ihnen zu lösen sucht; es ist nicht einmal dann erlaubt, wenn ein Kranker nicht mehr zu leben imstande wäre.“ Auch wenn sie nicht durch die egoistische Weigerung motiviert ist, sich mit der Existenz des leidenden Menschen zu belasten, muss die Euthanasie als falsches Mitleid, ja als eine bedenkliche „Perversion“ desselben bezeichnet werden: denn echtes „Mitleid“ solidarisiert sich mit dem Schmerz des anderen, tötet nicht den, dessen Leid unerträglich ist. Die Tat der Euthanasie erscheint umso perverser, wenn sie von denen ausgeführt wird, die – wie die Angehörigen – ihrem Verwandten mit Geduld und Liebe beistehen sollten, oder von denen die – wie die Ärzte – auf Grund ihres besonderen Berufes den Kranken auch im leidvollsten Zustand seines zu Ende gehenden Lebens behandeln müssten.

EV 66 Obwohl bestimmte psychologische, kulturelle und soziale Gegebenheiten einen Menschen dazu bringen können, eine Tat zu begehen, die der natürlichen Neigung eines jeden zum Leben so radikal widerspricht, und dadurch die subjektive Verantwortlichkeit vermindert oder aufgehoben sein mag, ist der Selbstmord aus objektiver Sicht eine schwer unsittliche Tat, weil er verbunden ist mit der Absage an die Eigenliebe und mit der Ausschlagung der Verpflichtungen zu Gerechtigkeit und Liebe gegenüber dem Nächsten, gegenüber den verschiedenen Gemeinschaften, denen der Betreffende angehört, und gegenüber der Gesellschaft als ganzer.

9. Höhepunkt der Willkür ist die Euthanasie ohne Zustimmung des Betreffenden

EV 65 Schwerwiegender wird die Entscheidung für die Euthanasie, wenn sie sich als Mord herausstellt, den die anderen an einem Menschen begehen, der keineswegs darum gebeten hat und niemals seine Zustimmung dazu gegeben hat. Der Höhepunkt der Willkür und des Unrechts wird dann erreicht, wenn sich einige Gesetzgeber oder Ärzte die Macht anmaßen, darüber zu entscheiden, wer leben und wer sterben darf. Hier zeigt sich wieder die Versuchung von Eden: werden wie Gott und „Gut und Böse erkennen“ (vgl. Gen 3,5). Doch Gott allein hat die Macht, zu töten und zum Leben zu erwecken: „Ich bin es, der tötet und lebendig macht“ (Dtn 32,39; vgl. 2 Kön 5,7; 1 Sam 2,6). Er verwirklicht seine Macht immer nur nach seinem Plan der Weisheit und Liebe. Wenn sich der Mensch im Bann der Logik von Torheit und Egoismus diese Macht anmaßt, benützt er sie unweigerlich zu Unrecht und Tod. So wird das Leben des Schwächsten in die Hände des Stärksten gelegt; in der Gesellschaft geht der Sinn für die Gerechtigkeit verloren und das gegenseitige Vertrauen, Grundlage jeder echten Beziehung zwischen den Menschen, wird an der Wurzel untergraben.

10. Die Rolle des Staates und die Zukunft der Demokratie

EV 68 Eines der Wesensmerkmale der — schon mehrmals erwähnten — derzeitigen Anschläge auf das menschliche Leben besteht in dem Bestreben, gesetzliche Legitimation für sie zu fordern, so als würde es sich um Rechte handeln, die der Staat, zumindest unter bestimmten Bedingungen, den Bürgern zuerkennen müsse, und demzufolge in dem Bestreben, die Umsetzung dieser Rechte mit dem sicheren und unentgeltlichen Beistand der Ärzte und des Pflegepersonals zu verlangen.

EV 70 Aber der Wert der Demokratie steht und fällt mit den Werten, die sie verkörpert und fördert: grundlegend und unumgänglich sind sicherlich die Würde jeder menschlichen Person, die Achtung ihrer unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte sowie die Übernahme des »Gemeinwohls« als Ziel und regelndes Kriterium für das politische Leben.

Grundlage dieser Werte können nicht vorläufige und wechselnde Meinungs«mehrheiten« sein, sondern nur die Anerkennung eines objektiven Sittengesetzes, das als dem Menschen ins Herz geschriebene »Naturgesetz« normgebender Bezugspunkt eben dieses staatlichen Gesetzes ist. Wenn infolge einer tragischen kollektiven Trübung des Gewissens der Skeptizismus schließlich sogar die Grundsätze des Sittengesetzes in Zweifel zöge, würde selbst die demokratische Ordnung in ihren Fundamenten erschüttert, da sie zu einem bloßen Mechanismus empirischer Regelung der verschiedenen und gegensätzlichen Interessen verkäme.

EV 71 Im Hinblick auf die Zukunft der Gesellschaft und die Entwicklung einer gesunden Demokratie ist es daher dringend notwendig, das Vorhandensein wesentlicher, angestammter menschlicher und sittlicher Werte wiederzuentdecken, die der Wahrheit des menschlichen Seins selbst entspringen und die Würde der Person zum Ausdruck bringen und schützen: Werte also, die kein Individuum, keine Mehrheit und kein Staat je werden hervorbringen, verändern oder zerstören können, sondern die sie nur anerkennen, achten und fördern werden müssen.

Referenzen

Evangelium vitae, Johannes Paul II, 28.3.1995

Kongregation für die Glaubenslehre, Erklärung zur Euthanasie, 5.5.1980

Katechismus der Katholischen Kirche, 1997

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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