Hirntod
Univ.-Prof. Dr. Johannes Bonelli
Stand: November 2013
Der Tod kann ganz allgemein nur negativ, vom Leben her definiert werden, nämlich als Verlust des Lebendigen. Wenn das, was in einem Lebewesen als Lebensprinzip gilt, nicht mehr vorhanden ist, ist es tot. Der Mensch ist leiblich-geistig verfasst, sein Lebensprinzip ist die Seele. Sie ist jedoch für die Medizin nicht erfassbar. Die Medizin kann daher bei der Feststellung des Todes nur vom Fehlen der Lebenszeichen ausgehen. Sie hat dazu Kriterien entwickelt, die durch den wissenschaftlichen Fortschritt im Laufe der Zeit verbessert werden konnten, d. h. sicherer wurden.
Nach den herkömmlichen Kriterien ist der medizinisch-biologische Tod eines Menschen dann eingetreten, wenn sichere Lebenszeichen wie Atmung und Herzschlag irreversibel fehlen. Die Betonung liegt freilich auf irreversibel, denn jeder, der mit Kranken zu tun hat, weiß, dass durch eine Reanimation ein Herz-Kreislauf-Stillstand behoben werden kann. Wenn es dabei aber infolge des Sauerstoffmangels trotzdem zu einer irreversiblen Schädigung des Gehirns kommt, ist die Reanimation nutzlos und erst dann kann man vom eingetretenen Tod sprechen. Das bedeutet, dass auch bei den herkömmlichen Todeskriterien, wenn auch nur indirekt, letztlich der Ausfall des Gehirns entscheidend ist.
Biologisch wird der Tod eines höheren Lebewesens allgemein als vollständiger und irreversibler Verlust sämtlicher Funktionen zur Steuerung (Integration und Koordination) eines Organismus zu einer funktionellen Einheit definiert.1 Dies ist eindeutig der Fall, wenn das Gehirn in seiner Gesamtheit irreversibel geschädigt ist.
Von einem Hirntoten spricht man also dann, wenn im Zustand des irreversiblen Erloschenseins der (integrativen) Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms durch kontrollierte Beatmung die Kreislauffunktionen noch aufrechterhalten sind.2
Das Erscheinungsbild des Hirntoten unterscheidet sich evidenterweise von einer Leiche in Totenstarre durch die augenscheinlichen Lebenszeichen (Herzschlag, Blutkreislauf, Hautfarbe, Nierenfunktion, Reflexe usw.). Doch der Schein kann bekanntlich trügen. Schon wiederholt wurden Lebende für tot und Tote für lebend gehalten. Die Intensivmedizin kann bei Hirntoten durch die Aufrechterhaltung der Herz-Kreislauf-Funktionen von außen eine gewisse Lebendigkeit eines bereits Gestorbenen nachahmen. Sie hält aber bloß die Funktionstüchtigkeit bestimmter Organe aufrecht, erhält aber auf keinen Fall einen prinzipiell lebensfähigen Organismus.3
Der Ausdruck „Hirntod“ bezeichnet nicht einen besonderen Fall des Todes, vielleicht einen höchst eigenen, sondern einfach den aktuellen Zustand des Leichnams.4
Das Hirntodkriterium impliziert auch nicht eine Neudefinition des Todes. Es gibt nicht zwei verschiedene Arten von „Totsein“, wie etwa den Herzkreislauftod und den Hirntod, sondern nur einen Tod des Menschen, der letztlich immer mit dem Hirntod besiegelt wird. Der Herzstillstand und die fehlende Spontanatmung allein lassen den Tod nicht mit Sicherheit feststellen (s. o.).
Dabei stellt die Hirntoddefinition insofern einen Fortschritt in der Todesfeststellung dar, als sie erlaubt, in bestimmten Fällen den Tod eines Menschen meistens zu einem früheren Zeitpunkt sicher festzustellen, als dies bei der konventionellen Todesdefinition der Fall ist.
Um den Hirntod als Tod des Menschen problemlos annehmen zu können, ist es erforderlich den Unterschied zwischen vegetativ-biologischem Leben und Lebewesen zu beachten. Von vegetativem Leben spricht man bei isolierten „lebenden“ Zellen oder Organen von einem Lebewesen.
Das Lebewesen zeichnet sich im Gegensatz zu rein vegetativem Leben vor allem durch eine funktionelle Einheit aus, die nicht wiederum Teil eines übergeordneten Ganzen, sondern ein letztes endgültiges Individuum ist. So sind das transplantationsfähige Herz-Lungenpräparat oder die bei einem Unfall noch „lebensfähige“ Extremität Teil eines Menschen, aber nicht dieser Mensch selbst. Es handelt sich um Leben von einem Menschen. Der Mensch als ganzheitliches individuelles Lebewesen ist hingegen niemals Teil einer übergeordneten Einheit, sondern immer eine in sich selbst endgültig abgeschlossene Ganzheit. Und zwar unabhängig davon, ob ihm das eine oder andere Organ oder eine Extremität fehlt oder nicht.
Die Hauptaufgabe des Zentralnervensystems besteht nun gerade in der Steuerung – Integration und Koordination – aller Organe des Organismus zu einer integrierten Einheit.5
Isolierte Gewebe und Organe sind zwar befähigt, bestimmte Funktionsleistungen zu erbringen, sie können jedoch ohne funktionierendes Zentralnervensystem ihre Funktion nicht aufeinander abstimmen und an zeitliche Veränderungen anpassen. Ohne Koordination ist Leben in höheren Organismen nicht denkbar.6 Beim Ausfall des menschlichen Zentralnervensystems bricht die Integration der Organe im Organismus zusammen. Das Gehirn ist aber nicht ein Organ wie jedes andere, also wie Herz, Leber, Niere usw., da das Zentralnervensystem im Gegensatz zu anderen Organen nicht ersetzbar ist. Sein Gesamtausfall lässt sich nicht – auch nur annähernd – durch technische Behelfe überbrücken. Es kommt zu einem Koordinationsausfall zwischen den einzelnen Organfunktionen und damit zu einem Verlust des einheitlichen Ganzen. Der Hirntote – bei dem sämtliche Gehirnfunktionen irreversibel erloschen sind – ist daher biologisch kein lebendiger, einheitlicher Organismus mehr, sondern er ist tot in oben definiertem Sinn. Es handelt sich um ein physiologisches Organkonglomerat bzw. um einen Organverbund von einem Menschen, aber nicht mehr um diesen Menschen selbst.7 Beim Hirntoten findet man also zwar vegetativ-biologisches Leben, aber nicht mehr die integrierte Einheit eines menschlichen Lebewesens. Mit der Zerstörung des Gehirns (Hirntod) ist daher gleichzeitig der Tod des Menschen verbunden.
Wie sehr das Vorhanden- oder Nichtvorhandensein des Gehirns das Dasein eines wahrhaften Menschen bestimmt, kann vielleicht am Beispiel von siamesischen Zwillingen deutlich gemacht werden: bei diesen gibt es auch solche, die zwar zwei voneinander getrennte Köpfe, aber nur ein einziges gemeinsames Kreislaufsystem mit nur einem Herzen haben. Trotzdem handelt es sich eindeutig um zwei Menschen. Wäre das Gehirn ein Organ wie jedes andere (was manche Hirntodgegner behaupten), so müsste man in einem solchen Fall von einem Menschen (ein Blutkreislauf!) mit zwei Gehirnen bzw. Köpfen sprechen. Bei Abtrennung von einem der beiden Köpfe (was bereits gemacht wurde) würde nach der obigen These ein unnötiges, weil doppelt angelegtes Organ entfernt werden, ohne dass dabei ein Mensch stirbt. (Das Kreislaufsystem bleibt ja erhalten!). Niemand wird hingegen bei einem anderen, doppelt angelegten Organ von zwei Menschen sprechen oder sich daran stoßen, würde man ein überzählig angelegtes Organ (bzw. eine Extremität) entfernen, wenn es stört. Hier zeigt sich ganz deutlich die hervorragende Bedeutung des Gehirns, dessen Funktion nicht gleichrangig mit anderen Organen verglichen werden kann. Man könnte sagen, dass das Gehirn, wenn es einmal vorhanden ist, gleichsam einen Menschen als individuelle Ganzheit definiert, bzw. garantiert, während mit seinem Verlust die Individualität und Einheit des Ganzen verlorengeht.
Die Annahme des Hirntodes als Tod des Menschen impliziert keineswegs die Folgerung, dass dann auch beim Embryo erst der Zeitpunkt der Entstehung des Gehirns die Geburtsstunde des Menschen sei, dass es sich also bei einem Embryo höchstens um biologisches menschliches Leben, nicht aber um einen Menschen handle. Diese Schlussfolgerung basiert auf einem falschen Verständnis der naturwissenschaftlichen Aussage über den Hirntod. Der Hirntod als Tod des Menschen wird von der Naturwissenschaft nicht deshalb konstatiert, weil ein menschliches Lebewesen ohne Gehirn prinzipiell nicht lebensfähig wäre, sondern weil im Falle des Hirntoten die naturwissenschaftlichen Kriterien eines Lebewesens nicht mehr erfüllt sind.8
Das Gehirn ist für diejenigen Individuen lebensnotwendig, bei denen es bereits ausgebildet ist, weil es von diesem Zeitpunkt an als Integrationszentrale der Lebensvorgänge fungiert. Vor der Ausbildung des Gehirns obliegt diese Aufgabe jedoch anderen somatischen Strukturen, die z. B. bei der befruchteten Eizelle im Zellkern lokalisiert sind. Der Embryo erfüllt alle Kriterien eines Lebewesens bereits in den ersten Tagen seiner Existenz auf hervorragende Weise und im höchsten Maße, obwohl er noch kein ausgebildetes Gehirn hat. Und im Übrigen auch kein Herz-Kreislaufsystem. Er ist eine in sich endgültig abgeschlossene individuelle Ganzheit, deren Lebensvorgänge wie Stoffwechsel, Wachstum usw. zu einer übergeordneten Einheit integriert sind und in der bereits sämtliche Eigenschaften und Funktionen eines Menschen für das ganze weitere Leben grundgelegt sind. Es handelt sich also beim Embryo um ein klassisches Lebewesen im naturwissenschaftlichen Sinne.
Die Hirntoddefinition begründet den Tod des Menschen auch nicht mit dem Verlust des Bewusstseins oder der Fähigkeit zu denken und lässt daher keinesfalls den Schluss zu, man müsse zwischen einem personalen menschlichen Lebewesen und einem biologischen menschlichen Lebewesen unterscheiden.
Dies dient gelegentlich als Rechtfertigung, um gewissen Menschen zwar ihr Menschsein zuzuerkennen, ihnen das Personsein aber abzusprechen. So wird behauptet, dass nicht nur Embryonen, sondern auch Anencephale und andere schwer Hirngeschädigte, alte oder kranke Menschen ruhig getötet werden könnten, mit dem Argument, wer keine Fähigkeit zum Denken besitzt, kann nicht beanspruchen als Person bezeichnet, bzw. respektiert zu werden.
Die Hirntoddefinition ist auch deshalb ein Fortschritt, weil sie es ermöglicht, noch funktionsfähige Organe eines Toten in einen anderen Organismus zu transplantieren.
Die Tatsache, dass bestimmte Organe bei ausreichender Sauerstoffzufuhr (Aufrechterhaltung von Herzschlag und Atmung) auch nach dem Gehirntod noch funktionstüchtig bleiben, macht sich die Transplantationsmedizin zu Nutze. Organe wie Nieren, Leber, Herz und Lungen können nach dem Hirntod einzeln oder auch en bloque explantiert und erfolgreich transplantiert werden.9
Um jedem Missbrauch vorzubeugen, ist in den meisten Ländern gesetzlich festgelegt, dass sämtliche Ärzte, die in die Betreuung von potentiellen Organspendern und in die Hirntoddiagnostik eingebunden sind, nicht dem Explantations- oder Transplantationsteam angehören dürfen. Dieses Nicht-Miteinbezogensein in die Hirntoddiagnostik hat den Vorteil, dass die eine Seite (Empfänger, Transplantationsteam) mit dem Schicksal der anderen Seite (Hirntoddiagnose, Spender) nicht direkt konfrontiert wird. Dadurch kann Befangenheit ausgeschlossen werden.
Selbstverständlich muss mit äußerster wissenschaftlicher Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit bei der Hirntoddiagnostik vorgegangen werden, um nach menschlichem Ermessen jede Irrtumsmöglichkeit auszuschließen. In Österreich hat der Oberste Sanitätsrat festgelegt, dass der Tod von einem Neurologen diagnostiziert werden sollte, wobei sowohl die klinische als auch die elektroenzephalographische Hirntoddiagnose zu stellen ist. Das EEG wird während 6 Stunden dreimal jeweils für mindestens 20 Minuten abgeleitet und von einem speziell ausgebildeten Neurologen befundet. Während dieser Zeit darf keine bioelektrische Aktivität im Gehirn nachweisbar sein.10
Immer wieder wird über Fälle berichtet, wonach sog. Hirntote jahrelang überlebt hatten. Diese Fälle halten allerdings einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht stand. Denn kein Fall erfüllte in einer Sekundäranalyse die sicheren und korrekten Kriterien des Hirntodes.11
Das Urteil über die Sicherheit und Aussagekraft der verschiedenen Methoden der Hirntoddiagnose liegt zweifelsohne ausschließlich in der Kompetenz der Ärzte. Wie immer aber das Urteil über die Zuverlässigkeit der einzelnen Diagnosemethoden ausfallen wird, dies ändert nichts an der Tatsache als solcher, dass der Hirntod – wenn einmal eingetreten – ein Zeichen für den biologischen Tod des Menschen ist.12
Referenzen
- Ingvar D. H., Bergentz S. E., Definition of death and organ transplan-tation, in: Pontificiae Academiae Scientiarum Scripta Varia, 83, Hrsg. White Q. J., Angstwurm H., Carrasco de Paula I. (1992)
- Zweite Fortschreibung der „Kriterien des Hirntodes“ des Wissen-schaftlichen Beirates der Bundesärztekammer, 29.6.1991
- Steinbereithner K., Hirntod und Intensivmedizin, in: Schwarz M., Bonelli J., Der Status des Hirntoten. Eine interdisziplinäre Analyse der Grenzen des Lebens, Springer Verlag (1995), S. 76
- Carrasco de Paula I., Das philosophische und epistemologische Prob-lem des Hirntodes, in: Schwarz M., Bonelli J., Der Status des Hirntoten. Eine interdisziplinäre Analyse der Grenzen des Lebens, Springer Verlag (1995), S. 162
- Marktl W., Die Bedeutung des Zentralnervensystems für die optimale Entfaltung der Lebensvorgänge, in: Schwarz M., Bonelli J., Der Status des Hirntoten. Eine interdisziplinäre Analyse der Grenzen des Lebens, Springer Verlag (1995), S. 35
- ebd.
- Gonzalo L. M., Gehirn und Geist, in: Schwarz M., Bonelli J., Der Status des Hirntoten. Eine interdisziplinäre Analyse der Grenzen des Lebens, Springer Verlag (1995), S. 59; Pöltner G., Die theoretische Grundlage der Hirntodtheorie, in: Schwarz M., Bonelli J., Der Status des Hirntoten. Eine interdisziplinäre Analyse der Grenzen des Lebens, Springer Verlag (1995), S.125-146
- Pöltner G., Achtung der Würde und Schutz von Interessen, in: Bonelli J., Der Mensch als Mitte und Maßstab der Medizin, Springer Verlag (1992), S. 3-32
- Schwarz C., Praktische Aspekte der Transplantationsmedizin, in: Schwarz M., Bonelli J., Der Status des Hirntoten. Eine interdisziplinäre Analyse der Grenzen des Lebens, Springer Verlag (1995), S. 197
- vgl. ÖBIG-Transplant, Transplantationsbericht an österreichischen Krankenanstalten, Ausgabe 1995, S. 22
- Trinka E., Hirntod: Konzepte, Kriterien, Kontroversen, Imago Hominis (2013); 20(2): 93-109
- Bonelli J., Der Status des Hirntoten, Imago Hominis (2013); 20(2): 79-91