Grenzen der Sozialmedizin
Dr. Wilhelm Donner
Stand: 2009 (aktualisiert: Dezember 2019)
Im Jahr 2017 betrug die Lebenserwartung in Österreich bei der Geburt 81,7 Jahre; dies sind 3,4 Jahre mehr als im Jahr 2000 und 0,8 Jahre mehr als der EU-Durchschnitt. Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind die häufigste Todesursache, jedoch steigt die diabetesbedingte Sterblichkeit an. Zwar leben die Österreicher immer länger, diese Jahre werden jedoch zu einem größeren Anteil mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen zugebracht als im EU-Durchschnitt. Im Gegensatz zur allgemeinen Lebenserwartung liegen die bei der Geburt erwarteten gesunden Lebensjahre deutlich unter dem EU-Durchschnitt. Im Jahr 2017 konnten Österreicher erwartungsgemäß bei der Geburt 57 Jahre lang behinderungsfrei leben; demgegenüber beträgt dieser Wert 64 Jahre in der EU insgesamt: Frauen konnten davon ausgehen, 68 % ihres Lebens behinderungsfrei zu leben (77 % in der EU), bei Männern lag der Wert bei 72 % (81 % in der EU) (vgl. State of Health in the EU - Österreich 2019).
Österreich hat ein soziales Krankenversicherungssystem. Die Gesundheitsausgaben pro Kopf betrugen im Jahr 2017 fast 3900 EUR, was ca. 1000 EUR über dem EU-Durchschnitt liegt und 10,4 % des BIP ausmacht (EU-Durchschnitt: 9,8 %). Es drängt sich die Frage auf, warum die markante Verbesserung der Rahmenbedingungen in der Krankenversorgung nicht zu einer nachhaltigen Verringerung der Krankheitslast der Bevölkerung geführt hat.
Eine Antwort ist nicht möglich, solange man bei der Ursachenforschung den Blick auf das bestehende System der Krankenversicherung beschränkt. Es erscheint daher zweckmäßig, den Begriff der „Nachhaltigkeit“ auch auf die Sozialmedizin anzuwenden – ähnlich wie in der Ökologie, wo er seine historischen Wurzeln in der Forstwirtschaft des 18. Jahrhunderts hat: Der Wald sollte so bewirtschaftet werden, dass sich die Holzentnahme an der Möglichkeit des Nachwuchses orientiert.
Die Sozialmedizin - Public Health - beschäftigt sich mit der Interaktion von sozialen Bedingungen, Gesundheit und Krankheit. Sie wird auch als die Lehre von der Gesundheitspolitik bezeichnet, welche die „Linienfunktionen“ (Prävention, Früherkennung, Therapie und Nachsorge) durch Planung unterstützt und evaluiert. Das Wissen um die sozialen und kulturellen Einflussfaktoren auf die Lebenserwartung der Menschen findet jedoch noch nicht in allen Ländern in entsprechenden Institutionen seinen Ausdruck. Da wurde z. B. in Großbritannien ein Ministerium für Public Health geschaffen, das unter anderem die Aufgabe hat, wirksame Strategien und Maßnahmen zu erarbeiten, um den notorischen Begrenzungen zu begegnen, welche die Frage der gerechten Verteilung der Gesundheitsressourcen betrifft.
Die erhebliche Zunahme der Lebenserwartung in den Industrienationen ist unter anderem auf verbesserte allgemeine Lebensbedingungen zurückzuführen. Dennoch verbleiben hohe Diskrepanzen im Gesundheitszustand der Menschen, wenn der unbeschränkte Zugang zur medizinischen Versorgung nicht allgemein gewährleistet ist. Es besteht die Forderung nach der Bildung eines solidarisch finanzierten Gesundheitssystems, das auf einkommensabhängigen Beitragszahlungen basiert. Es hat primär die Verteilungsgerechtigkeit und nicht die Tauschgerechtigkeit zur Maßgabe.
Aristoteles unterscheidet zwischen distributiver (Verteilungs-) und kommutativer (Vertrags-)Gerechtigkeit. Bei ersterer ist es möglich, dass der Einzelne von einer höheren Distanz und in verschiedenem Maße wie ein anderer zugeteilt bekommt, und zwar nach Übereinkunft. Die andere Grundform sorgt dafür, dass die vertraglichen Beziehungen zwischen einzelnen Menschen rechtens sind (Nikomachische Ethik).2
Die iustitia distributiva beruht auf der staatlichen Zuweisung von Gütern und Rechten nach dem Prinzip der Angemessenheit. Aristoteles bedachte dabei, dass die Regeln der Proportionalität exakt auf die einzelne Situation angewendet werden können und forderte daher zusätzlich eine Fallgerechtigkeit, die Epikie (aequitas oder Billigkeit). In späterer Folge lösten im Rahmen der Gerechtigkeitsdiskussion anthropologische Aspekte (etwa jene nach den Grundbedürfnissen) die alten Gesichtspunkte immer mehr ab.
Erst in der Neuzeit haben sich David Hume, Adam Smith und John Locke mit der Gerechtigkeit befasst. Aber bei all diesen dominiert die Frage der Tauschgerechtigkeit, während die Verteilungsgerechtigkeit für lange Zeit in die Sphäre der privaten Tugenden verschoben wird. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts wird dieses Prinzip auch auf die Sozialpolitik und später auf das Krankenversicherungskonzept übertragen.
Solange die Gerechtigkeit in der Art einer Grundversorgung im Sozialstaat existiert, könnte nach Nozick der Einzelne aufgrund seiner stärkeren Präferenz für Gesundheit im Gegensatz zum Anderen, der sein Einkommen anderweitig ausgibt, eine bessere Versorgung erhalten.3 Das Prinzip der Konsumentensouveränität sollte demnach auch am Gesundheitsmarkt einer sozialen Marktwirtschaft herrschen.
Versicherungen haben seit dem 19. Jahrhundert die alte (intra-)familiare Solidarität abgelöst. Seit Anbeginn durchlaufen sie aber eine Krise, da die meisten Versicherten glauben, im Falle der Krankenversicherung weniger zu erhalten, als sie eingezahlt haben. Dies deshalb, weil der Median der bezogenen Leistungen vom arithmetischen Mittel der Zahler weit entfernt ist.
Zudem betrugen die kontinuierlich steigenden Gesundheitsausgaben im Jahr 2005 in Österreich 25 Mrd. Euro, das sind 10,2% des BIP. Davon waren 19 Mrd. Euro öffentliche Ausgaben (entsprechend 7,7% des BIP). Im Gesundheitswesen besteht das Problem nämlich darin, dass niemals ein Überfluss an medizinischen Leistungen gegeben sein wird.
Insoweit wäre das Rationalisierungsgebot in der Medizin als moralische Pflicht zu sehen. Gleichzeitig liegt es auf der Hand, dass die von Politikern angesprochenen Rationalisierungsreserven keineswegs so groß sind, um sämtliche Knappheiten in der gesundheitlichen Versorgung zum Verschwinden zu bringen. Mit dem Anwachsen medizinischer Möglichkeiten wird der Zusatznutzen weiterer Leistungen keineswegs vermindert, im Gegenteil: Er wächst mit steigender Zunahme des medizinisch-technischen Fortschritts. Gleichzeitig dringt es verstärkt ins allgemeine Bewusstsein, dass diese Leistungen nicht allen zur gleichen Zeit zugänglich gemacht werden können.
Wir sitzen nämlich in der Fortschrittsfalle: Je besser die Medizin, desto mehr überlebende Kranke in der Gesellschaft. Das führt zu der scheinbaren Paradoxie, dass die Versorgungsqualität der Patienten umso höher zu bewerten ist, je höher die Anzahl der Kranken ist. Tatsächlich bewirken viele medizinische Maßnahmen nicht mehr die Heilung eines Patienten, sondern nur die zeitliche Ausdehnung der Behandlungsbedürftigkeit, notwendigerweise verbunden mit einer Ausdehnung der Lebenszeit.
Da die Todesrate in einer Gesellschaft immer 100% beträgt, bedeutet die Vermeidung der einen Todesart lediglich, dass mehr Menschen an einer anderen Krankheit versterben werden.
Vorsorgeuntersuchungen für Krebserkrankungen könnte man zum Beispiel nicht nur jährlich, sondern theoretisch jeden Monat durchführen; ein Programm, das abgesehen vom Problem seiner praktisch-realen Durchführbarkeit immer noch einen gewissen Zusatzertrag an medizinischem Nutzen hätte. Theoretisch könnten wir bereits heute das gesamte Bruttosozialprodukt eines entwickelten Landes für Gesundheitsausgaben verwenden, welche die Lebensqualität und die erwartete Lebensdauer von Patienten erhöhen können. Ob wir das wollen sollen?
Daher können weitere Verbesserungen nicht unbegrenzt finanziert werden. Dies wird bedeuten, das heute gewährte Leistungen, z. B. in der Früherkennung von Krankheiten, zwar nicht vorenthalten werden, aber künftig mögliche Leistungsverbesserungen, die das derzeitige Niveau überschreiten, vorrangig gut definierten Risikogruppen zugänglich sein werden.
Im Zusammenhang mit der Gerechtigkeitsfrage in der Medizin wird immer wieder von der Gefahr einer Zwei-Klassen-Medizin gesprochen. Eine – wie J. Kandlhofer meint– unzulässige Zuschreibung für das österreichische Gesundheitssystem, in der die Krankenbehandlung umfassend geregelt und für alle Versicherten – und das sind 99% der Österreicher – einheitlich im ASVG § 133 Abs. 2 definiert ist. Demnach muss die Krankenbehandlung ausreichend und zweckmäßig sein, sie darf jedoch das Maß des Notwendigen nicht überschreiten.
Dieser Kernsatz des allgemeinen Krankenversicherungsgesetzes schließt vieles ein und einiges aus. Ausgeschlossen ist die Festschreibung einer Zwei-Klassen-Medizin, da ja auch bei knapper werdenden Ressourcen der gleiche Basisstandard des eingeschlossenen Notwendigen für alle gleichermaßen festgelegt ist. Und weiter heißt es im Gesetz: Durch die Krankenbehandlung sollen die Gesundheit, die Arbeitsfähigkeit und die Fähigkeit, für die lebenswichtigen persönlichen Bedürfnisse zu sorgen, nach Möglichkeit wiederhergestellt, gefestigt oder gebessert werden. … (3) Kosmetische Behandlungen gelten als Krankenbehandlung, wenn sie zur Beseitigung anatomischer oder funktioneller Krankheitszustände dienen.
Für die Versicherten und Patienten entsteht die moralische Verpflichtung der Eigenverantwortung. Diese bezieht sich auf das Ernährungs- und Risikosportverhalten ebenso wie auf die gebotenen Alltagsnormen, sich ausreichend körperlich zu betätigen und die Besonnenheit im Genussmittelkonsum zu üben. Dabei kann die Solidarität gleichwohl als unabdingbare Voraussetzung für jede soziale Versicherungswirtschaft nicht ausgeklammert werden. Solidarität darf nur der erwarten, der selbst solidarisch ist.
Wie aber in allen systemisch bezogenen Fragestellungen kommt es auf das Maß und die Balance an. Jegliches Marktelement auszuschalten hieße, der Willkür und der Zwei-Klassen-Medizin auf schnellem Wege die Türen zu öffnen. Sowohl innerökonomische wie gerechtigkeitstheoretische Argumente sprechen gegen eine rein marktorientierte Verteilung von Gesundheitsgütern. Nach dem ökonomischen Argument weisen ganz spezifisch die Gesundheitsmärkte Elemente auf, die zu einem schnellen Marktversagen führen können.
Hiermit schwächt die soziale Krankenversicherung als Mittler zwischen Konsument und Leistungsanbieter den rauen Wind des Marktes etwas ab, aber ihr Radius und ihre Handlungsspielräume sind durch den Gesetzgeber und die politischen Rahmenbedingungen außendeterminiert.
Daher kann aus ethischer Sicht die theoretische Conclusio nur lauten: Gleicher Zugang zur Gesundheitsversorgung und einen Basisanspruch auf Gesundheitsleistungen in ausreichendem Maß, und das für alle. Aufgrund des sozialethisch begründeten Anspruchs auf Hilfe im Krankheitsfall muss die medizinische Grundversorgung im Rahmen eines solidarisch finanzierten Gesundheitswesens einkommensneutral zur Verfügung stehen. Darüber hinausgehende individuelle Präferenzen sollen ihre Sättigung auf einem freien, für private Zusatzversicherungen offenen Markt finden.
Als Strategie gegen die Mittel- und Ressourcenknappheit stehen grundsätzlich zwei Wege zur Verfügung: Die Effizienzsteigerung (Rationalisierung) und die Leistungsbegrenzung (Rationierung).
Der Medizinhistoriker Edward Shorter unterteilt etwas vereinfacht, aber plausibel, drei Epochen im Umgang von Ärzten und Patienten zueinander:4
- Die traditionelle Periode (2. bis 19. Jahrhundert), in der die orthodoxe Schulmedizin mit anderen Heilern um Patienten konkurrierte;
- die moderne Periode (vom 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts), in der sich das Verhältnis zu Gunsten der Ärzte verschob;
- und schließlich die neueste Periode ab der Mitte des 20. Jahrhunderts, in welcher sich der informierte, selbstbewusste Patient „entwickelte“ und auf die Autorität der Ärzte zunehmend mit Rückzug oder Ärger reagiert.
Inzwischen haben andere Modelle der Arzt-Patienten-Beziehung Eingang gefunden, insbesondere jene des „shared decision making“ (partizipative Entscheidungsfindung) und der „evidence-based-patient choice“ (auf Evidenz basierende Patientenentscheidung). Es handelt sich dabei um vielversprechende Fortentwicklungen älterer Modelle der patientenzentrierten Interaktion. Informierte Zustimmung umfasst im Rahmen von Diagnose und Therapie vor allem die Information des Patienten über seine medizinische Situation, aber auch die Erläuterung der Therapieoptionen durch den Arzt und die Sicherstellung, dass der Patient diese auch verstanden hat und dabei seine Entscheidungsfreiheit wahren konnte.
Bedeutsam ist, dass jede Dynamisierung dieser sensiblen Beziehung äußerste Behutsamkeit verlangt. Es wird auch weiterhin so sein, dass der Patient nicht bloß seinen Körper als Rechtsgut in die ärztliche Ordination schleppt, sondern als Person in leib-seelischer Einheit dort selbst erscheint. Und das bedeutet auch in seiner Vulnerabilität als Kranker. Die biomedizinische Ethik hat in den 1970er Jahren vor allem in Amerika die Autonomie zum prioritären Prinzip erhoben. Aus Sicht der Medizinethik seit Beauchamp und Childress ist der Patient ein autonomes, selbstbestimmtes Wesen und hat das Recht, selbst zu entscheiden, was mit ihm geschieht – dieses hat der Arzt zu respektieren. Das Konzept der "absoluten" Autonomie wird inzwischen im medizinethischen Diksurs zunehmend durch das Konzept der "relationalen" Autonomie ersetzt. Selbstbestimmung findet unter Bedingungen der Beziehung statt. Hier stellt sich die Frage, wie asymmetrische Kommunikation im Verhältnis von Arzt/Pflegenden und Patienten gelingen kann und was Selbstbestimmung und Fürsorge angesichts der prinzipiellen Angewiesenheit des Menschen und insbesondere des Kranken oder auch des durch kognitive Einschränkungen Beeinträchtigten bedeutet.
Referenzen
- OECD und State of Health in the EU, 2019
- Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1131a
- Nozick R., Anarchy, State and Utopia, Basil Blackwell, Oxford (1974)
- Shorter E., Das Arzt-Patient-Verhältnis in der Geschichte und heute, Picus Verlag, Wien (1991)