Fehlerkultur in der Medizin
Univ.-Prof. Dr. Friedrich Kummer
Stand: Dezember 2011
Erfahrene Ärzte wissen: Wer viel arbeitet, macht auch Fehler; nur wer nie arbeitet, macht auch keine Fehler. Was aber ist ein Fehler? Abgesehen von der groben Fahrlässigkeit sind Fehler das Resultat von meist schicksalhaften, unvorhergesehenen Verkettungen von Umständen, die in ein nicht erwünschtes Ergebnis münden oder einen Misserfolg nach sich ziehen.
Die Herausforderung besteht im Umgang mit den Fehlern, in der Medizin mit jenen, die im Zuge der Behandlung von Patienten vorkommen, verursacht durch Ärzte, Pflegepersonal, aber auch durch Betriebs-, Verwaltungs- und Führungspersonen von Krankenanstalten, wobei die beiden erstgenannten Verursacher bei weitem die Hauptlast der Fehler zu tragen scheinen.
Der Erfolg des Teams in der modernen Diagnostik und Behandlung birgt zugleich den Schlüssel zum konstruktiven Umgang mit Fehlern. So hat sich auch in der Medizin – ähnlich wie in der Wirtschaft – eine Entwicklung von der reinen Fachexpertise des Einzelnen hin zur Management-Expertise vollzogen: Neben fachlicher Qualifikation zählt jetzt auch die Teamfähigkeit als Faktor für die Qualität von Abläufen und für die Interaktion der Beteiligten. Daraus leiten sich die Stärken eines Teams ab, welche in den folgenden sechs Grundvoraussetzungen zusammengefasst werden können: Balance, Ausrichtung auf ein Ziel, Resilienz, Energielevel, Offenheit und Effizienz des Teams.
Auf medizinische Bereiche angewendet zeigt sich, dass hier die Verhältnisse ungleich komplexer sind als in anderen zivilen Bereichen, weil es sich – neben den sachlich-fachlichen Komponenten – auch um die Einflussnahme von Menschen in belastenden Situationen handelt. An erster Stelle sind hier die Kranken selbst zu nennen, aber auch die Angehörigen und das medizinische Personal in seiner je eigenen vielschichtigen Komplexität.
Die Balance (Einbindung von unterschiedlichen Talenten und Stärken im medizinischen Personal) und die gemeinsamen Ziele (optimale Behandlung) sind dennoch für den Gesamterfolg ebenso bedeutsam wie die Offenheit in der Diskussion über ein optimales Vorgehen in der Behandlungsstrategie im Einzelfall und beim Aufgreifen von kleinen Verbesserungsvorschlägen von Seiten der Mitarbeiter (kontinuierliche Verbesserungsprozesse, KVP).
Von zentraler Bedeutung – auch in der Fehlerkultur – ist die Resilienz (Umgang mit Problemen bei Druck von außen), die ganz wesentlich vom Zusammenhalt des Teams abhängt. In diese gilt es zu investieren, etwa mit gemeinsam erarbeiteten Richtlinien, die das Wissen um die Stärken und kollektiven Fähigkeiten des Teams stärken, bis hin zu gemeinsamer Freizeitgestaltung (Stationsausflüge) und kleinen Festen. In großen Drucksituationen soll das „Wir-Verständnis“ überwiegen: Der Fehler wird nicht mehr bei einem Einzelschuldigen gesucht, sondern in fehleranfälligen gemeinsamen Strukturen.
Der in einem Team wirkende Energiepegel ist vorgegeben von der Teamleitung. Die Übertragung desselben auf das Team liegt schlicht in der Güte der Kommunikation, die in keiner Phase des Erfolgs, aber auch der Fehlerbewältigung wegzudenken ist. Hier tritt die Bedeutung des Managements zu Tage, das in medizinischen Strukturen aufgrund der alltäglichen Sorge um die Patienten marginalisiert wird, aber eine entscheidende Rolle bei der Umsetzung von Verbesserungen in der Krankenversorgung spielt: im Mikrokosmos des Spitalszimmers wie auf der Makroebene des Gesundheitssystems. Die Kompetenz der Teamführung manifestiert sich auch hier, und zwar bei der Steuerung einer Kommunikation, die das Team viel effizienter an die gemeinsamen Zielvorstellungen heranführt, als dies ein regelloser Debattierclub vermöchte. Die Teamleitung ist hochkompetent, wenn sie die Kommunikation so zu steuern weiß, dass Bereitschaft zum Feedback (gegenüber Fremdbildern von außen und zur Reflexion innerhalb des Teams) geschaffen wird.
Ein Fehler besteht allgemein gesprochen in der Abweichung von einem Soll-Zustand, Soll-Ergebnis, Soll-Prozess oder einer Soll-Struktur, die durch einen gewachsenen Konsens des Teams als solche festgeschrieben wurden. Dabei ist es mehrfach belegt, dass diese Fehler in Abläufen oder Strukturen nicht primär – wie schon angesprochen – der Einzelperson angelastet werden können, sondern letztlich auf das Versagen eines Systems (des Teams) zurückgeführt werden müssen, auch wenn dies oft gegen die eigene Intuition beim Auftreten eines Fehlers geht: Nur zu gerne möchte man den einen Schuldigen fassen, gemäß dem Sprichwort, dass der Erfolg viele Väter hat, der Misserfolg nur einen. Also ist das Gut der Gesundheit/der erfolgreichen Behandlung dem Funktionieren des Teams anvertraut – wobei notgedrungen nicht nur der Erfolg, sondern auch der Fehler zur Teamsache wird.
Während im Wirtschaftsbereich nahezu alles von der Zusammenarbeit im Team abhängt, gibt es im medizinischen Bereich Situationen, die das folgenschwere Versagen des Einzelnen möglich machen (Extrembelastung auf Intensivstationen, ultralange Operationen, tagelange Dienstzeiten mit Schlafentzug), sodass in einer interkurrenten zusätzlichen Akut- und Notfallbelastung der Fehler passiert (Beispiel: falsche Blutkonserve; Verwechslung des Patienten oder des geplanten Eingriffs etc.). Schließlich gehen Patienten und Öffentlichkeit von der Erwartung eines hohen ärztlichen Berufsethos aus, verbunden mit dem Anspruch auf Fehlerlosigkeit.
Wie reagiert der Einzelne, wie das Team? Worin besteht eine adäquate Fehlerkultur?
Vorrangig erscheint die Rolle der Teamführung. Die Reaktion der Chefs ist prägend für die ihm unterstehende Organisation. Weiters: Wie steht es mit den Emotionen im Team? Emotionen können für eine Atmosphäre des ängstlichen Vermeidungsverhaltens und damit für weitere Fehler verantwortlich sein – eine typische Manifestation minderer Teamkultur. Schließlich spielt die Bereitschaft zur Berichterstattung kleiner Fehler oder die Ortung der Quellen eine große Rolle. Aber wenn das gegenseitige Vertrauen und die Loyalität im Team stimmen, trägt eine solche Kultur der positiven Fehlerkommunikation zur Prophylaxe, Manöverkritik und Bereitschaft der Selbstkritik bei.
Jeder Fehler ist dazu da, dass alle möglichst viel daraus lernen – so heißt eine auf viele Bereiche anwendbare Regel, nicht nur in medizinischen Abläufen. Dieser Lernprozess erschöpft sich nicht in der künftigen Vermeidung des Fehlers, sondern zieht das Bemühen um eine Verbesserung des Gesamtprozesses nach sich. Damit wird der Fehler zur Chance, die mit Hilfe von Reflexion und Rückkoppelung genützt werden kann.
Die Reflexion: Wie konnte mir/uns das passieren? Was an meiner/unserer Grundhaltung begünstigt das Auftreten von Fehlern?
Die Rückkopplung: Was muss ich/müssen wir in unserem Alltag verbessern?
Eine weitere wichtige Regel: Es darf zu keinen Schuldzuweisungen kommen. Fehler sind eben eine Chance zu lernen, die allen im Team gleichermaßen geboten ist und verhindert, dass sich die einen über die anderen erheben und zu unguten Entwicklungen von Machtpositionen oder Abhängigkeiten im Team führen. Feedbackschleifen bei der Dokumentation von Fehlern sollen klar definiert werden: Jeder einzelne Beitrag zum Fehler darf angesprochen werden, um dem „Vernaderer“ den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Aus der Tugendethik können sechs Kriterien abgeleitet werden, nach denen die patientenorientierte Kommunikation strukturiert wird. Diese sind: 1. rasches Handeln, 2. Vertrauen, 3. Minimierung des Schadens, 4. Mut zur Wahrheit, 5. die Einbeziehung der Angehörigen und 6. die Bereitschaft zur Wiedergutmachung.
1. Rasches Handeln: Die erste Voraussetzung hiefür ist, dass das Behandlungsteam sehr schnell darüber einig ist, dass ein Fehler vorliegen könne, und dass dies auch unverzüglich weiteren Verantwortlichen (Ärztliche Leitung, Anstaltsdirektion) unverzüglich mitgeteilt wird. Danach ist der Patient – unter Berücksichtigung seines Gesamtzustandes – zu informieren und die menschlich-persönliche Zuwendung zu intensivieren, während gleichzeitig alle Mittel zur Schadensbegrenzung eingesetzt sowie alle Fakten gesammelt werden und mit der Analyse derselben begonnen wird.
2. Wiederherstellung des Vertrauens: Es steht außer Frage, dass ein vom Patienten vermutetes Ereignis das Vertrauen untergräbt. Bei folgenschweren Behandlungsfehlern wird zumeist das Vertrauensverhältnis so sehr erschüttert, dass nur durch eine qualitativ anspruchsvolle empathische Gesprächsführung ein für die weitere Behandlung notwendiges Mindestmaß an Vertrauen wiederhergestellt wird. Eventuell kann es angebracht sein, gut ausgewählte – wenn auch teamfremde – Kommunikationsexperten heranzuziehen.
3. Minimierung des objektiven Schadens: Der Patient muss laufend Signale bekommen, dass man aufrichtig bemüht ist, den Schaden zu begrenzen. Es wäre unangebracht, durch diagnostische oder therapeutische Hektik quasi die Flucht nach vorne anzutreten.
4. Mut zur Wahrheit: Mut, Wahrhaftigkeit und Empathie sind jene Tugenden, die nach Fehlern dem Behandlungsteam gut anstehen und die Kommunikation prägen müssen. Erste Erklärungen dem Patienten gegenüber sollten sich auf gesicherte Fakten beschränken. Vermutungen oder Schuldzuweisungen gegen Kollegen sind auf jeden Fall zu vermeiden. Eine offene, ehrliche und wirksame Kommunikation enthält ein demütiges Eingeständnis und ein glaubhaftes Bedauern des Fehlers. Dieses Eingeständnis schadet nichts, im Gegenteil: Ernst zu nehmende Patientenbefragungen ergaben, dass die Klagebereitschaft abnimmt (und die Bereitschaft zu einem Vergleich zunimmt), wenn dem Arzt ein ehrliches Bedauern geglaubt wird. Wichtig ist, alle Gespräche mit dem Patienten im Team sehr gut abzustimmen.
5. Angehörige in die Kommunikation mit einbeziehen: Bei folgenschweren Behandlungsfehlern zählen auch die Angehörigen zu den Opfern. Sofern die betroffenen Patienten nicht Kinder sind, deren Eltern man unverzüglich einbinden muss, ist es klug, auskunftsberechtigte Angehörige umfassend zu informieren und in gewisse Entscheidungen – mit Zustimmung des Patienten- auch einzubeziehen.
6. Bereitschaft zur Wiedergutmachung: Das Prinzip der Gerechtigkeit fordert Restitution. Die Bereitschaft dazu muss von dem Hauptverantwortlichen bestätigt werden, der auch den Patienten darüber informiert, wie eine Wiedergutmachung aussehen könne.
Entschädigungsfonds
Unter diesen Voraussetzungen wird nicht nur der ethischen Relevanz der Fehlerkultur Rechnung getragen, sondern auch die Bereitschaft zur einvernehmlichen Schlichtung (ohne Involvierung von Klage und Gerichtsverfahren) wesentlich gestärkt. Dazu trug auch die Schaffung von Entschädigungsfonds bei. Diese werden nach §27a KAKuG mit dem Fall befasst, allerdings nur wenn in der Kausalität ein Verschulden, eine Rechtswidrigkeit und damit eine Haftung des Rechtsträgers ausgeschlossen worden sind.
Wenn auch für den betroffenen Patienten aus dem Schlichtungsverfahren kein Rechtsanspruch auf die Entschädigungssumme besteht, so sieht der Betroffene doch in dieser Aktion ein ernsthaftes Bemühen, seine Autonomie und Würde nach Erdulden des Fehlers nach Tunlichkeit wieder herzustellen.