IMABE Infos

Das menschliche Genom

Mag. Susanne Kummer
Stand: September 2000 (aktualisiert: September 2019)

Die Sequenzierung (Synonym für Entschlüsselung in der Genetik) des menschlichen Genoms bedeutet einen Meilenstein für die wissenschaftliche Erkenntnis. Für die Humangenomforschung hat damit ein neuer Abschnitt ihrer Entwicklung begonnen. Er hat die Forschung in zuvor unbekannte Gebiete führen und in der humanbiologischen und medizinischen Grundlagenforschung ebenso wie in deren Anwendung in medizinischer Diagnostik und Therapie weitreichende Perspektiven eröffnen.Wri stehen im „Vorzimmer“ für Verständnis, Vorhersage, Vorsorge und Heilung von Krankheiten. Nun geht es darum, zu verstehen, was diese Gebrauchsanleitung alles enthält. In der Folge wurden einige Fragen, die sich aus dieser Entdeckung ergeben, beantwortet.

Das Genom enthält die Information, die für den Aufbau und die Funktion der Organe notwendig ist. Mit Abschluss des Humangenomprojekts /HUGO) ist die Ordnung und Abfolge aller Bausteine, die unser genetisches Erbe ausmacht, bekannt. Diese Information ist in der Sprache der Chemie verfasst, d.h. in Form von „Buchstaben“ (von Basenpaaren der DNS).  Ziele des HUGO-Projekts, das am 1. April 1990 begann, waren es unter anderem alle Gene des Menschen zu identifizieren; die Sequenz der etwa 3 Milliarden Basenpaare der DNA zu finden; relevante Technologien wie Datenanalyse zu entwickeln und zu verbessern sowie ethische, rechtliche und soziale Fragestellungen, die infolge des Projekts auftreten würden, anzusprechen. Seit April 2003 gilt das menschliche Genom offiziell als vollständig entschlüsselt. Insgesamt enthält das Genom des Menschen rund 20.000 Gene.

Nun hatte man die Buchstaben, aber nicht die Worte und die Sprache, um die Bedeutung der Gene zu verstehen. Dies wird in Folgeprojekten des HGPs erforscht. Das 2003 ENCODE-Projekt wurde gegründet, um die Funktion des menschlichen Erbguts zu untersuchen. In mühsamer Kleinarbeit untersuchte ein Zusammenschluss internationaler Forschergruppen das gesamte Genom und fanden fast überall Hinweise, dass die Sequenzen aktiv sind. Nur etwa 2% des Genoms sind für die Herstellung von Proteinen zuständig. Die restlichen 98% wurden lange Zeit als überflüssig erachtet und abschätzig als DNA-Schrott bezeichnet. Aber zur Über­raschung der Wissenschaftler sind diese sogenannten nicht-codierenden Bereiche äußerst aktiv: Ein großer Teil wird regelmäßig abgelesen und ermöglicht die Produktion von RNA, dem Schwestermolekül der DNA2. Die Funktion der meisten dieser RNAs bleibt jedoch unbekannt.

Um die Funktion der nicht-codierenden Sequenzen ist seitdem ein Streit entbrannt, der zum Teil mit großer Schärfe ausgetragen wird. Da keines der Lager bislang endgütlig schlüssige Beweise vorlegen konnte, ist ein Ende der Kontroversen nicht in Sicht. Trotz aller Fortschritte der Genomforschung - noch gibt es mehr Theorien als Fakten zur Funktion der nicht-codierenden DNA. Wesentliche Fragen bleiben ungeklärt. Forscher werden noch viel Arbeit investieren müssen, bevor ihre Antworten jeden überzeugen1.

Die Sequenzierung des menschlichen Genoms ist nicht ein Ziel an sich, sondern stellte erst den Beginn eines neuen Forschungsgebietes dar. Die entschlüsseten Daten sind vergleichbar mit einem chiffrierten elektronischen Brief: Wir hatten zwar die Gene entziffert, wussten aber nicht, was das bedeutet. Nun galt es, den Ort der Gene am Genom festzustellen und ihre Funktionen zu bestimmen, die Bedingungen zu erforschen, unter denen sie sich aktivieren oder deaktivieren, wie sie zusammenwirken und welche Proteine (Eiweißstoffe) von jedem von ihnen erzeugt werden.

Ein Gen ist ein Teil der DNA mit einer Länge von 500 bis 5.000 Buchstaben, welche die nötige Information spezifiziert, um ein Protein herzustellen (d.h. die Reihenfolge jener Komponenten [Aminosäuren], die ein Protein bilden). Nach der Sequenzierung der Gene richtete sich das Augenmerk darauf, die menschlichen Proteine zu beschreiben. Die Proteine beeinflussen alles, was in lebenden Organismen geschieht. Es ist viel schwieriger zu verstehen, wie ihre Struktur vom Strukturaufbau und wie ihre Funktion von dieser Struktur abhängig sind, als die Gene selbst zu entziffern. Während die DNA aus einer Reihe von Buchstaben oder Basen von 4 Typen zusammengestellt ist, sind es bei den Proteinen 20 - die Aminosäuren. Bislang wurden mehr als 18.000 Proteine und damit 92 Prozent des menschlichen Proteoms katalogisiert2 . Da die meisten Medikamente auf Proteine wirken, könnten Therapien mit den Erkenntnissen darüber gezielter angepasst werden als beim Blick auf die Gene.

Das Genom kodiert alle Möglichkeiten, die einer Zelle offen stehen. Die Analyse der DNA-Sequenz allein kann nicht alle Fragen beantworten - das Verständnis der Epigenetik wird entscheidend sein. Denn erst das Epigenom lässt die Möglichkeiten zur Wirklichkeit werden. Daher sind auch Forschungen im Bereich der Epigenetik entscheidend. Sie ist ein Fachgebiet der Biologie, das sich mit der Frage befasst, welche Faktoren die Aktivität eines Gens und damit die Entwicklung der Zelle zeitweilig festlegen. Dieses neue Forschungsfeld widmet sich dem Wechselspiel zwischen Genetik und Umwelt: Die Epigenetik untersucht, wie die Umwelt Markierungen im Genom hinterlässt und welche Folgen das hat. Diese Markierungen sind dauerhaft und werden bei einer Zellteilung weitergegeben3.

Das Ziel ist, präzise festzustellen, welches Gen bei einer Krankheit nicht oder falsch funktioniert, um eine Tür zu neuen und exakteren, sowie individuelleren Behandlungen zu eröffnen. Z.B. wird ein Vergleich der Aktivität von normalen Zellen und solchen, die von Krebs befallen sind, es viel leichter machen, die Gene zu identifizieren, die das Auftreten einer Krebserkrankung bewirken und es wird möglich sein, diese Gendefekte auf der Ebene der Moleküle zu therapieren.

Mitunter sagt man, man habe das “Alzheimer-Gen” oder jenes Artheriosklerose (Gefäßverkalkung) identifiziert. Wenn man aber von einem Gen spricht, das ein Molekül, eine Eigenschaft oder eine Krankheit bestimmt, dann vereinfacht man eine viel komplexere Wirklichkeit stark. Jedes Gen kodiert ganz einfach eines der am Entwicklungsprozess beteiligten Proteine. Es gibt aber viele Arten von Genen, die am Aufbau eines Proteins beteiligt sind. Der vollständige Prozess der Erzeugung eines Proteins ergibt sich nur dann, wenn der gesamte Stoffwechsel der Zelle korrekt funktioniert. Zur Zeit versuchen die Molekularbiologen die Unterschiede in spezifischen Genen mit Änderungen von Eigenschaften in Verbindung zu bringen. Sie können aber noch lange nicht voraussagen, ob die Mutation eines Gens die Zelle oder den Organismus beeinflussen wird und wie das geschieht.

Wenige Krankheiten gehen auf die Mutation eines einzigen Gens zurück (z.B. zystische Fibrose). In vielen anderen Fällen ist die Zahl der beteiligten Gene viel höher, wodurch die Diagnose erschwert wird. Heute neigen die Wissenschaftler und die Ärzte immer mehr dazu, von erblichen Tendenzen oder Prädispositionen zu sprechen, um komplexe oder allgemeine Krankheiten zu erklären. Es gibt aber nur wenige Krankheiten, deren Vererbungsmechanismus beschrieben werden kann. In den meisten Fällen sind die Wissenschaftler weder sicher, ob die Krankheit vererbt ist noch können sie sagen, wer die Krankheit vererbt bekommt. Die komplexen Krankheiten sind verschieden und unvorhersagbar, weil sie von vielen biologischen Faktoren und Umwelteinflüssen abhängen.

Auch wenn man das menschliche Gen kennt, benötigt man noch viel Zeit, um die genetischen Faktoren einer Krankheit zu identifizieren. Und es können Jahrzehnte verstreichen zwischen der Entdeckung einer genetischen Mutation, die Ursache einer Krankheit ist, und der Entwicklung einer vorbeugenden oder heilenden Behandlung.

Die genetische Therapie will Krankheiten behandeln oder heilen, indem defekte Gene von Patienten durch gesunde ersetzt werden. Erste Studien zu gentherapeutischen Verfahren am Menschen fanden Anfang der 1990er Jahre statt. Die Gentherapie gilt daher als ein relativ junges Gebiet der Forschung, zu dem im Vergleich zu anderen Behandlungsmethoden erst wenige klinische Studien durchgeführt wurden. Daher können bisher keine Langzeitfolgen von gentherapeutischen Behandlungen vorhergesagt werden. Ansätze, die der Korrektur fehlerhafter Gene dienen, lassen sich vorerst nur zur Behandlung monogenetischer Erkrankungen einsetzen. Erkrankungen, die durch komplexere genetische Schäden verursacht werden, können mit diesen Methoden der Gentherapie nicht ursächlich behandelt werden. Die erste klinische Studie am Menschen mit CRISPR/Cas9 zur Behandlung von Krebs, von der man sich grundlegende Erkenntnisse bezüglich des therapeutischen Potentials der neu entwickelten Verfahren erhofft, startete Ende 2016.

Die meisten der gegenwärtigen Heilmitteln wirken nur in einem Teil der Patienten und einige führen zu schweren Nebenwirkungen für eine kleine Minderheit unter ihnen. Das Genom und die Zusammensetzung der Proteine, die jeder Person eigen sind, bestimmen oft die Reaktion eines Medikamentes. Wenn man diese Daten kennt, kann man die Behandlung entsprechende der Physiologie und der genauen Erkrankung der jeweiligen Person wählen.

Die Gene sind Bestimmungen für die biologischen Eigenschaften, doch auf das menschliche Verhalten wirkt über das Ererbte hinaus auch noch die Umwelt. Wir sind weder Gefangene unserer Gene, noch können wir uns hinter ihnen verschanzen. „Das Genom entbindet die Menschen nicht von ihren Entscheidungen, noch von ihrer persönlichen Verantwortung. Niemand kann sich hinter seinen Gene verstecken” (Craig Venter). Die Gene berühren unsere Entwicklung, doch ebenso tun es unsere persönlichen und sozialen Umstände. Für die Entwicklung des Menschen sind drei Faktoren zu jeweils einem Drittel entscheidend: Gene, Umwelt und Freiheit.

Im allgemeinen sind Untersuchungen, die eine Information über ein mögliches Risiko für eine bestimmte Erkrankung anbieten in weiterer Zukunft problematisch. Eine Frau, die auf eine Probe zur Entdeckung einer genetischen Variante im Bezug auf Brustkrebs positiv reagiert, beginnt zu denken, dass sie krank ist, bevor sich die Krankheit, wenn überhaupt, entwickelt hat. Wenn man also entdeckt, dass man mit einer höheren Wahrscheinlichkeit eine bestimmte Krankheit bekommt, erzeugt diese Information vor allem als Angst, solange es keine Vorbeugung oder Behandlung dafür gibt.

Allerdings könnte das Wissen um ein gewisses Krankheitsrisiko zu einer veränderten Lebensweise führen, z.B. Änderung der Ernährungsgewohnheiten.

Man spricht von der Möglichkeit, dass genetische Tests zu Diskriminierungen seitens der Versicherungsunternehmen oder am Arbeitsplatz führen können. Die Versicherungen versuchen die Prämien einer Person mit größerer Neigung zu bestimmten Krankheiten zu erhöhen. Die Unternehmen können die Daten benützen, um bestimmte Personen, die für Krankheiten prädisponiert sind, nicht anzustellen.

In den USA haben einige Staaten gesetzlich gegen diese diskriminierenden Möglichkeiten und gegen die Bedrohung der Privatsphäre Vorkehrungen getroffen, während die Britische Regierung erlaubt hat, dass die Versicherungsgesellschaften von ihren Klienten genetische Informationen verlangen können, bevor eine Polizze unterschrieben wird. Auch in der Schweiz dürfen manche Krankenkassen mit Zusatzversicherung die Offenlegung genetischer Tests verlangen4.

in ihrer Allgemeinen Deklaration über das Menschliche Genom und Menschenrechte (1997) hat die UNESCO im Artikel 6 festgehalten: "Wegen seiner genetischen Eigenschaften darf niemand Objekt einer Diskriminierung sein, die möglicherweise oder tatsächlich die Menschenrechte, die grundlegenden Freiheiten oder die menschliche Würde verletzt."5

„Jede neue Macht des Menschen ist auch eine Macht über den Menschen“ sagt C.S. Lewis. Grundsätzlich bedeutet die Kenntnis des Genoms einen ersten Schritt dazu, genetisch bedingte Krankheiten zu heilen. Doch die Perspektive, dass wir das menschliche Genom ändern können, ändert unsere Vorstellung von der Gesundheit. Es könnte uns zu mehr Intoleranz verleiten und der Druck auf einen "perfekten" Menschen steigen bzw. der Anspruch, nur noch getestet ins Leben treten zu dürfen. Bei der künstlichen Befruchtung wird in zahlreichen Ländern bereits die Präimplantationsdiagnostik (vgl. IMABE-Info Präimplantationsdiagnostik) routinemäßig zur Selektion von Embryonen vorgenommen. Die Angebote von genetischen Analysen vor der Einpflanzung des Embryos in die Gebärmutter wachsen - die sog. Nicht-invasiven pränatalen Test (NIPT). Die Tendenz, dass Kinder abgelehnt werden, weil sie Krankheiten bekommen könnten, die wir bisher ohne Probleme akzeptiert haben, wächst.

Referenzen

  1. vgl. Volker Henn, Nicht-codierende DNA: Mehr als "Schrott und Müll"? (Wissensschau.de, online 19.12.2018)
  2. Technische Universität München, Meilenstein für die Analyse menschlicher Proteome (PM online 30.1.2017)
  3. Epigenetik: Wie die Umwelt das Genom formt. (Wissensschau.de, online 21.8.2019)
  4. Krankenkassen dürfen nach Gentests fragen, NZZ, 27.2.2018
  5. UNESCO: Allgemeinen Deklaration über das Menschliche Genom und Menschenrechte (1997)
Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
Unterstützt von: