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Behandlungsabbruch und Behandlungsverzicht aus moralischer Sicht

Zwei extreme Positionen stehen einander in der Frage des Behandlungsabruchs einander gegenüber: einerseits der rigoristische Standpunkt, der den unermeßlichen Wert jedes Lebens so versteht, daß daraus die kategorische Forderung abgeleitet wird, man müsse bereit sein, absolut alles zu tun, um jedes Leben zu retten. Praktisch führt das dazu, daß man die Sterbenden nicht in Ruhe sterben läßt. Das andere Extrem ist die Legitimierung einer Freigabe der Selbstbestimmung des Sterbezeitpunktes mit dem Argument, daß der Wert des Lebens von einer Reihe von Qualitäten abhängt (Lebensqualität), die wiederum das Leben lebenswert oder lebensunwert machen. Jeder hat nun das Recht für sich selbst zu bestimmen, unter welchen Umständen für ihn die Lebensqualität nicht mehr ausreichend ist (Vgl. dazu IMABE-Info 2/97). Im Grunde geht es hier allein darum, ob es legitim sein kann, eine medizinische Handlung abzubrechen oder auf sie zu verzichten. In der Folge sprechen wir in diesem Zusammenhang vom Behandlungsabbruch, weil sich dieser Terminus in der Praxis durchgesetzt hat und auch ein Behandlungsverzicht und eine damit einhergehende Therapiezieländerung darunter verstanden wird.

Der Zielsetzung nach gibt es drei Arten von Behandlungen. Eine Behandlung kann erstens kurativ sein, zweitens nur lebenserhaltend, aber nicht kurativ (z.B. Dialyse bei Niereninsuffizienz oder Insulinbehandlung bei Diabetikern), und drittens palliativ, aber nicht lebenserhaltend (z.B. Schmerzlinderung bei Terminalpatienten). Der Begriff Behandlungsabbruch ist zweideutig. Niemals darf darunter verstanden werden, daß man einen Patienten einfach nicht behandelt. Behandlungsabbruch, so wie wir ihn verstehen heißt, daß eine bestimmte Therapie abgebrochen und durch eine andere ersetzt wird (Therapiezieländerung weg von kurativ hin zu palliativ). Wenn es keine Heilung gibt, wird man auf lebenserhaltende Maßnahmen (Dialyse, Respirator) zurückgreifen können und wenn diese nicht mehr helfen, zumindest palliativ behandeln. Der Patient muß aber bis zum Tode medizinisch betreut werden. Die eigentliche Frage ist, ob man eine bestimmte Behandlung abbrechen darf, wenn dies den Tod zur Folge hat und bis zum Eintritt des Todes nur palliativ weiterbehandeln? Falls ja, wann und unter welchen Umständen?

Die Antwort auf diese Frage muß sich zunächst auf das Prinzip der "Heiligkeit des Lebens" stützen, einem Grundsatz der Bioethik, der sich aus der Würde der Person ableiten läßt. Er besagt, daß das Leben ein primäres und fundamentales Gut der menschlichen Person ist, dessen Wert unermeßlich und unvergleichlich ist.

Im medinischen Alltag können allerdings Situationen auftreten, in welchen die Anwendung des Prinzips der Heiligkeit des Lebens große Schwierigkeiten bereitet. Die Frage ist meistens, wie weit die Verpflichtung, für die eigene und für die fremde Gesundheit zu sorgen, reicht. Es ist klar, daß für die Gesundheit nicht jeder immer und alles zu opfern hat. Die Anwendung dieses Prinzips erfordert daher zusätzliche Regeln, die gefunden werden können, wenn man die Sittlichkeit des Behandlungsverzichtes bzw. -abbruchs anhand der allgemeinen Bestimmungskriterien der Sittlichkeit einer Handlung festlegt.

Die Beurteilung eines Behandlungsabbruches hängt erstens von der Absicht, zweitens von dem, was man eigentlich tut und drittens von den Folgen ab:

1) Absicht: Die Absicht des Handelnden darf nicht die Tötung sein.

2) Gegenstand der Handlung bzw. der Handlungsentscheidung: Man darf sich nicht für eine Handlung entscheiden, die an sich unmittelbar die Tötung bedeutet.

3) Folgen: Viele Handlungen haben gleichzeitig mehrere Folgen, manche davon können auch schlecht sein. Sind die schlechten Folgen auch voraussehbar, kann man nicht sagen, daß sie nicht gewollt sind, wenn die Handlung trotzdem gesetzt wird. Die Folge, derentwillen die Handlung gesetzt wird, ist also Gegenstand der Absicht und ist direkt gewollt und wird daher Hauptfolge genannt. Diese Folge muß gut sein, damit die Handlung gut ist. D.h. eine Handlung, die eine Tötung eines Unschuldigen als Hauptfolge hat (vgl. 1) und 2)) kann niemals sittlich gut sein. Die anderen Folgen sind nicht beabsichtigt, sind nicht ungewollt aber nicht direkt, sondern indirekt gewollt und werden Nebenfolgen genannt. Prinzipiell gilt, daß sie vermieden werden müssen. Können schlechte Nebenfolgen aber manchmal in Kauf genommen werden? Wenn ja, unter welchen Umständen?

Wenn man diese ethischen Überlegungen auf die Dreiteilung der Behandlungsarten anwendet, kommen wir zu folgenden ethischen Regeln:

1) Jeder Patient soll kurativ behandelt werden, solange es eine entsprechende Therapie gibt, bzw. diese verfügbar ist.

2) Mangelt es an kurativen Behandlungsmöglichkeiten, soll jeder Patient mit sinnvollen lebenserhaltenden Maßnahmen behandelt werden, solange es eine solche Behandlung gibt. Hier müßte man sich mit einigen definitorischen Probleme beschäftigen: was ist eine lebenserhaltende Maßnahme, wann ist sie sinnvoll und wann ist sie es nicht mehr: wie lange muß die Verlängerung sein: 3 Monate, 6, 1 Jahr usw. Fragen, die sehr schwer zu beantworten sein können.

3) Alle Patienten sollen palliativ behandelt werden, damit bei jeder Behandlung die höchstmögliche Lebensqualität erreicht wird.

Nun bleiben zwei Fragen offen:

a) Muß man unter allen Umständen alle verfügbare Mittel anwenden?

b) Kann man den indirekten Tod, d.h. den Tod als Nebenwirkung in Kauf nehmen?

Gehen wir zunächst auf die zweite Frage ein. Vorausgesetzt, daß die Absicht gut ist, und daß die Mittel, d.h. die Handlungen, die gesetzt werden, gut sind, dann gilt das Prinzip der Verhältnismäßigeit, d.h. das Gute der Gesamtfolgen muß das Schlechte überwiegen. Mit anderen Worten, die Handlung ist gut, wenn durch sie mehr Gutes als Schlechtes erreicht wird. Dies behandelt das Prinzip der Verhältnismäßigkeit, weil gutes und schlechtes selten direkt arithmetisch vergleichbar sind und man sich an Relationen halten muß.

Dieses Kriterium entspricht den drei bekannten Regeln der katholischen Moraltheologie zur Beurteilung der Handlung mit Doppeleffekt: 1. Die negative Folge der Handlung darf nicht angestrebt werden. Sie muß, soweit es geht sogar vermieden werden. 2. Die negative Folge muß objektiv den Charakter einer Nebenwirkung haben und darf nicht die Hauptwirkung solcher Handlung sein. 3. Die negative Folge muß in einer angemessenen Proportion zum Zweck der Handlung stehen.

Die Antwort auf die erste Frage ist: Die Anwendung außerordentlicher Mittel ist nicht verpflichtend. Dies entspricht dem Grundsatz, daß kein positives Gebot bis hin zum Unmöglichen d.h. zum Heroismus verpflichten kann. Heute wird es meistens vorgezogen, von "ver-hältnismäßigen" und "unverhältnismäßigen" Mitteln zu sprechen. Das heißt Mittel, die in keinem Verhältnis zum möglichen Erfolg stehen, sind nicht verpflichtend.

Diese Grundsätze hat die Kongregation für die Glaubenslehre in ihrer Erklärung zur Euthanasie ausgeführt und dazu folgende Klarstellungen hinzugefügt3:

  • Sind andere Heilmittel nicht verfügbar, darf man mit Zustimmung des Kranken Mittel anwenden, die der neueste medizinische Fortschritt zur Verfügung gestellt hat, auch wenn sie noch nicht genügend im Experiment erprobt und nicht ungefährlich sind. Der Kranke, der darauf eingeht, kann dadurch sogar ein Beispiel der Hochherzigkeit zum Wohl der Menschheit geben.
  • Ebenso darf man die Anwendung dieser Mittel abbrechen, wenn das Ergebnis die auf sie gesetzte Hoffnung nicht rechtfertigt. Bei dieser Entscheidung sind aber der berechtigte Wunsch des Kranken und seiner Angehörigen sowie das Urteil kompetenter Fachärzte zu berücksichtigen. Diese können mehr als andere eine vernünftige Abwägung vornehmen, ob dem Einsatz an Instrumenten und Personal die erwarteten Erfolge entsprechen und ob die angewandte Therapie dem Kranken nicht Schmerzen oder Beschwerden bringt, die in keinem Verhältnis stehen zu den Vorteilen, die sie ihm verschaffen kann.
  • Es ist immer erlaubt, sich mit den Mitteln zu begnügen, welche die Medizin allgemein zur Verfügung stellt. Niemand kann daher verpflichtet werden, eine Therapie anzuwenden, die zwar schon im Gebrauch, aber noch mit Risiken versehen oder zu aufwendig ist. Ein Verzicht darauf darf nicht mit Selbstmord gleichgesetzt werden: es handelt sich vielmehr um ein schlichtes Hinnehmen menschlicher Gegebenheiten; oder man möchte einen aufwendigen Einsatz medizinischer Technik vermeiden, dem kein entsprechender zu erhoffender Nutzen gegenübersteht; oder man wünscht, der Familie beziehungsweise der Gemeinschaft keine allzu große Belastung aufzuerlegen.
  • Wenn der Tod näher kommt und durch keine Therapie mehr verhindert werden kann, darf man sich im Gewissen entschließen, auf weitere Heilversuche zu verzichten, die nur eine schwache oder schmerzvolle Verlängerung des Lebens bewirken könnten, ohne daß man jedoch die normalen Hilfen unterläßt, die man in solchen Fällen einem Kranken schuldet. Dann liegt kein Grund vor, daß der Arzt Bedenken haben müßte, als habe er einem Gefährdeten die Hilfe verweigert.

Nicht wenige, die bereit wären, einem Behandlungsverzicht zuzustimmen, bringen nicht dieselbe Bereitschaft zum Behandlungsabbruch auf. Einmal begonnen, so sagen sie darf man nicht mehr unterbrechen, weil dies mit dem Tod endet und dann einer dirketen Tötung gleichkäme. Dieser Ansicht liegt die Auffassung zugrunde, daß sterbenlassen ohne Zutun manchmal gerechtfertigt werden kann, während jedes aktive Zutun im Verdacht der direkten Tötung steht. Ist das richtig? Die Kongregation für die Glaubenslehre hat festgestellt, daß man nicht verpflichtet ist eine Behandlung fortzusetzen, wenn diese nicht mehr sinnvoll ist. Man muß daher festhalten, daß eine Situation, in der es sittlich erlaubt ist, auf eine Behandlung zu verzichten, es auch legitim ist, diese zu unterbrechen. Es handelt sich weder im einen (Be-handlungsverzicht), noch im anderen Fall (Behandlungsabbruch) um eine direkte Tötung: Da man zur Überzeugung gelangt ist, daß jede weitere Therapie sinnlos und der Tod nicht mehr aufzuhalten ist, überläßt man den Patienten seinem Schicksal.

Die Verhältnismäßigkeit läßt sich nicht auf ein paar fixe Regel mit allgemeiner Gültigkeit reduzieren. Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit muß der Tugend der Klugheit (Prudentia) zugeordnet werden. Klugheit im klassischen Sinn ist das Handeln gemäß der rechten Vernunft. Sie hat im sittlichen Bereich eine Steuermannfunktion. Die Klugheit bestimmt, welche Werte bei einer bestimmten Handlung ausschlaggebend sind bzw. welche Tugenden zur Ausübung gelangen sollen. Durch die Klugheit erst wird eine Handlung wirklich tugendhaft. D.h. bevor jemand gerecht, tapfer oder maßvoll sein kann, muß er zuerst klug sein. So heißt es treffend formuliert: "Was gut ist, das ist zuvor klug". Es muß in der rechten Vernunftsordnung stehen. Denn die Klugheit legt im konkreten Einzelfall jene goldene Mitte fest, die für jede Tugend konstitutiv ist4.

Der kluge Handlung wird durch drei vorausgehende Akte konstituiert, die die eigentliche Klugheit bewirken: beraten (consilium), beurteilen (iudicium), befehlen (imperium)5. Die Klugheit verlangt, daß man sich mit einer Sachlage ernsthaft beschäftigt, die Probleme in allen ihren Aspekten beleuchtet, und gegenbenenfalls um Rat frägt, weil in den meisten komplexen Fragen nicht jeder ein Experte sein kann. Das alles solange bis man sich ein richtiges Bild gemacht hat. Die Beratung wird so zur Erkenntnis dessen führen (Urteil), was zu tun ist und welche Mittel dafür eingesetzt werden sollen. Darauf folgt der "Befehl" der konkreten Handlungsanweisung.

Die Verhältnismäßigkeit ist also ein Klugheitskriterium zur Abwägung der Folgen. d.h. um festzustellen, ob das Gute das Schlechte in der Gesamtfolge überwiegt, z.B. ob man eine Handlung setzen kann, die als Nebenfolge den Tod herbeiführen kann. Die Anwendung dieses Kriteriums erfordert ein eingehendes Studium, das alle konkreten Umstände eines gegebenen Falles abwiegt. Im Falle des Behandlungsverzichts bzw- -abbruchs müssen Faktoren wie Art der Krankheit, Familiensituation, die zur Verfügung stehenden finanziellen und medizinischen Mittel, Alter des Patienten, Lebenserwartung, voraussichtliche Lebensqualität, psychische Verfassung etc. mit berücksichtigt werden. Die sittliche Relevanz dieser Abwägung setzt allerdings voraus, daß keine Absicht zu töten besteht und daß das, was man zu tun gedenkt, auch im Prinzip gut oder zumindest indifferent ist. Erst wenn Absicht und Gegenstand der Handlung ethisch einwandfrei sind, hat es moralisch gesehen einen Sinn die Folgen abzuwägen.

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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