Die nationale Gesundheitsbehörde (NHS) hatte im Jahr 2020 die Universität York damit beauftragt, eine unabhängige Überprüfung der bestehenden wissenschaftlichen Literatur vorzunehmen. Ziel sollte es sein, evidenzbasierte Behandlungsempfehlungen zu geben, wenn Minderjährige den Wunsch einer Geschlechtsumwandlung äußern.
Die Behandlung der Genderdysphorie bei Kindern und Jugendlichen ist inzwischen auch außerhalb von Großbritannien ein Politikum, da die Zahlen weltweit sprunghaft angestiegen sind (Bioethik aktuell, 1.10.2021). Der Abschlussbericht Independent Review of gender identity services for children and young people (Cass-Review), erstellt unter der Leitung von Hilary Cass, ehemaliger Präsidentin des Royal College of Paediatrics and Child Health, wurde nach vierjähriger Arbeit nun in den Archives of Disease in Childhood veröffentlicht.
Der 400-seitige Review umfasst insgesamt 32 Empfehlungen zum Umgang mit Kindern und Jugendlichen, die sich in ihrer Geschlechtsidentität verunsichert fühlen oder eine Geschlechterdysphorie aufweisen.
Psychische Belastungen durch das eigene Geschlecht haben komplexe Ursachen
Der Cass-Review betont, dass junge Menschen ganzheitlich und nicht nur im Hinblick auf ihre geschlechtsbedingte Belastung betrachtet werden müssen. Es gäbe keine einfache Erklärung für den Anstieg der Zahl überwiegend junger Menschen und junger Erwachsener, die ihr Geschlecht ändern wollen. Insbesondere der rapide Anstieg unter Mädchen und jungen Frauen gibt noch Rätsel auf. Einigkeit bestehe darüber, dass es sich um ein komplexes Zusammenspiel biologischer, psychologischer und sozialer Faktoren handelt. Die Gewichtung dieser Faktoren sei individuell vorzunehmen, so der Report.
Aufgeheizte Debatte zur Behandlung von Minderjährigen schadet Kindern
Der Bericht beklagt, dass die Debatte über Genderdysphorie eine „außergewöhnliche Toxizität“ erreicht habe, die betroffene Minderjährige „mitten in einen sozialen Diskurs“ stürze. Hinzu komme Angst beim medizinischen Personal, sich über ihre Ansichten zur Behandlung von Transpersonen zu äußern. Diese Einschüchterungen müssten aufhören, hält Cass fest (Deutsches Ärzteblatt, online, 12.4.2024). Aufgrund des großen medialen Echos hat sie erneut zu den Ergebnissen Stellung bezogen und FAQ hinzugefügt (25.4.2024).
Ärzte hatten seit Jahren auf Missstände hingewiesen
Ziel müsse es sein, dass Behandlungen „klinischen Standards entsprechen und nicht Ideologien“, betont der britische Psychoanalytiker David Bell (Sky, 10.4.2024) in einer Stellungnahme zum Cass-Review. Bell hatte als Whistleblower den Skandal um die Londoner Transgender-Klinik Tavistock aufgedeckt (Bioethik aktuell, 10.8.2022). Ärzte hätten auf Missstände hingewiesen, weil Autismus, Depressionen, Traumata und Missbrauch in der Krankheitsgeschichte der Kinder übersehen werden: „Diese Kinder haben darunter gelitten, die falsche Behandlung bekommen zu haben, und außerdem wurden die Störungen, die sie hatten, nicht behandelt“, so Bell.
Überblick über die wichtigsten Ergebnisse des Cass-Review 2024
- Ärzte können nicht mit Sicherheit sagen, welche Kinder und Jugendlichen eine dauerhafte Transidentität haben werden.
- Für die meisten jungen Menschen ist ein medizinischer Eingriff nicht die beste Möglichkeit, ihre geschlechtsbedingte Belastung zu bewältigen.
- Für junge Menschen, bei denen ein medizinischer Eingriff klinisch indiziert ist, reicht es nicht aus, diesen anzubieten, ohne sich auch mit umfassenderen psychischen und/oder psychosozial belastenden Problemen zu befassen.
- In der Diagnostik müsse es eine klare klinische Begründung geben, wenn Jugendlichen ab 16 Jahren Hormone verschrieben werden. Anderenfalls sollte man bis zur Volljährigkeit warten.
- Für eine frühere Gabe von Pubertätsblocker fehlen die wissenschaftlichen Erkenntnissen hinsichtlich Wirksamkeit und Verträglichkeit.
Die mangelnde Evidenz bisheriger Behandlungsstandards wird offengelegt
Bislang galt die Behandlung nach dem sogenannten Dutch-Protokoll als Standard, wenn ein Leidensdruck durch das eigene biologische Geschlecht bestand. Dieses Therapie-Protokoll geht auf ein Team um Annelou de Vries vom Vrije Universiteit Medical Center in Amsterdam zurück. Sie hatte das Behandlungskonzept 2006 entwickelt (Journal of Sex and Marital Therapy (2023, 49(4), 348–368 DOI: 10.1080/0092623X.2022.2121238). Es besteht aus einer anfänglichen Behandlung mit Pubertätsblockern, meist GnRH-Analoga, die die physiologisch angelegte Geschlechtsreifung stoppen. Im weiteren Verlauf erhalten die Patientinnen und Patienten „Cross-Sex-Hormone“, um bei Jungen weibliche Geschlechtsmerkmale und bei Mädchen eine Vermännlichung zu fördern. Eine Follow-up-Studie mit 70 Personen erfolgte 2011 (The Journal of Sexual Medicine; 2011: 8 (8), 2276–2283 DOI: 10.1111/j.1743-6109.2010.01943.x). Verhaltensstörungen, emotionale Probleme sowie depressive Symptome seien demnach unter der Behandlung zurückgegangen.
Mittlerweile wird das Dutch-Protokoll als nicht evidenzbasiert kritisiert (Bioethik aktuell, 13.12.2023) – einer Kritik, der sich der Cass-Review nun auch anschließt, da eine randomisierte Kontrollgruppe fehlte.
Schädliche Folgen auf Körper und Psyche durch Hormonbehandlung
Die Sozialwissenschaftlerin Jo Taylor und Kollegen der Universität York geben für den Cass-Review an, dass sich unter 50 Studien nur eine einzige qualitativ hochwertige befinde. Rückschlüsse auf die Auswirkungen der Behandlung bei Genderdysphorie, die psychische und psychosoziale Gesundheit oder die kognitive Entwicklung betreffen, seien deshalb nicht möglich. Stattdessen bleibe das Risiko, dass die Behandlung Knochengesundheit und Knochengröße beeinträchtigt (Archives of Disease in Childhood Published Online First: 09 April 2024. doi: 10.1136/archdischild-2023-326669).
Ähnlich verhält es sich mit den Auswirkungen der anschließenden Hormonbehandlung mit männlichen oder weiblichen Geschlechtshormonen auf die Psyche. Von 53 Studien erfülle nur eine die Qualitätsansprüche („Good clinical practice“). Als Gefahr genannt werden die Folgen für Fertilität, Größe/Wachstum, Knochengesundheit und kardiometabolische Auswirkungen, die nicht nachverfolgt wurden (Archives of Disease in Childhood Published Online First: 09 April 2024. doi:10.1136/archdischild-2023-326670).
Die bisher veröffentlichten internationalen Leitlinien stehen auf dünnem Eis
Nur wenige von den 23 Leitlinien aus anderen Ländern (ohne Berücksichtigung der neuen deutschen Leitlinie), die die Forschenden auswerteten, hielten einer systematischen Überprüfung stand. Taylor vermutet, dass die Leitlinien-Autoren unkritisch die Angaben der World Professional Association for Transgender Health (WPATH) und der Endocrine Society für die jeweiligen Länderleitlinien übernommen haben (Archives of Disease in Childhood Published Online First: 09 April 2024. doi:10.1136/archdischild-2023-326499). Die Voraussetzungen für eine umfassende S3-Leitlinie konnten damit nicht erreicht werden. Erst kürzlich stand WPATH international im Fokus der Kritik, nachdem Mitarbeiter interne Papiere geleakt hatten, wonach Behandlungsempfehlungen bewusst ideologisch, ohne medizinische Evidenz erstellt wurden (Sex Matters, 5.3.2024).
Mehrheit der Jugendlichen versöhnt sich von alleine mit eigenem Geschlecht
Die erste Langzeit-Studie zu Jugendlichen, die Probleme mit ihrem Geschlecht hatten, wurde kürzlich im Archives of Sexual Behaviour (online 27.2.2024 https://doi.org/10.1007/s10508-024-02817-5) publiziert. Das Team um die Neurowissenschaftlerin und Psychologin Sarah M. Burke von der Universität Groningen hat 2.772 Jugendliche im Alter zwischen von 11 bis 26 Jahren (53% davon männlich) über 15 Jahre hindurch mehrmals befragt, ob sie sich wünschen würden, das andere Geschlecht zu haben. Gleichzeitig wurde der Selbstwert, die allgemeine psychische Gesundheit der jungen Menschen und die sexuelle Orientierung erfasst.
Die Ergebnisse waren eindeutig: Die Mehrheit der Befragten, die im frühen Jugendalter Probleme hatte (insgesamt 11 Prozent), söhnte sich im Verlauf der Zeit von alleine mit dem eigenen Geschlecht aus. In zwei Prozent der Fälle bestand die Unzufriedenheit mit dem Geschlecht schon sehr früh und verschlimmerte sich zunehmend. Sie stand in Korrelation zu einem geringen Selbstwertgefühl, Verhaltens- und emotionalen Problemen und einer homosexuellen Neigung. Unter den Unzufriedenen war die Mehrzahl Mädchen.
Bei der Gruppe mit nachlassender Unzufriedenheit (19%) war im Alter über 25 Jahre überhaupt kein bestehender Transwunsch mehr nachweisbar. 78 Prozent der jungen Menschen waren von vorneherein mit ihrem Geschlecht zufrieden.