Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat im Fall des im Wachkoma liegenden querschnittsgelähmten Franzosen Vincent Lambert den Einspruch der Eltern gegen die Beendigung der künstlichen Ernährung abgewiesen. Dies gab das Gericht am 6. Juli 2015 in Straßburg bekannt. Der EGMR hatte zuvor nach langem Rechtsstreit entschieden, dass die französischen Ärzte rechtskonform handeln, wenn sie die künstliche Ernährung und Flüssigkeitszufuhr des 38-jährigen Wachkoma-Patienten beenden (vgl. Case of Lambert and others v. France, 46043/14, 5. Juni 2015). Die Ärzte würden damit auch nicht gegen Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention, der das Recht auf Leben garantiert, verletzen, so die zwölf Straßburger Richter. Fünf Richter hatten allerdings dezidiert gegen das Votum gestimmt. Sie wiesen in ihrem Sondervotum (46043/14, S. 53-62) darauf hin, dass der Patient weder hirntot noch sterbend sei, eigenständig atme, eine funktionierende Verdauung habe und schmerzfrei sei. Es sei beklagenswert, dass der Staat sich hier seiner Schutzpflicht gegenüber dem Recht auf Leben entledige: „Spielen ökonomische Gründe eine Rolle? ( ) Ist es, weil diese Person nicht mehr gebraucht wird oder keine Bedeutung für die Gesellschaft hat, also nicht mehr als Person angesehen wird, sondern nur noch als 'biologisches Leben'? “, kritisieren die Richter.
Vincent Lambert liegt seit einem Motorradunfall im September 2008 im Wachkoma. Er ist querschnittgelähmt, öffnet die Augen und muss künstlich ernährt werden. Laut seiner Ärzte seien kaum noch Anzeichen von Bewusstsein auszumachen, er befinde sich in einem „vegetativen Zustand“. Bereits im Jahr 2013 hatten die Ärzte die künstliche Ernährung abgebrochen, bis das Gericht einschritt. Lambert hatte zu diesem Zeitpunkt 31 Tage ohne Nahrung und mit nur sehr wenig Wasser überlebt.
Wie im Fall Terri Schiavo ist auch Vincent Lamberts Familie in Hinblick auf den mutmaßlichen Willen des Patienten tief zerstritten. Die Ärzte, Lamberts Ehefrau sowie die meisten seiner Geschwister hatten sich für einen Abbruch der künstlichen Ernährung ausgesprochen. Die Eltern dagegen wollten, dass ihr Sohn weiter künstlich ernährt wird. Sie riefen deshalb den Menschenrechtsgerichtshof um Hilfe an, mit der Begründung, dass er sich in einem minimalen Bewusstseinszustand befinde und Reaktionen zeige. Mit einem am 5. Juni von einem Freund gefilmten Youtube-Video, das Vincents Reaktionen zeigt, gingen sie an die Öffentlichkeit.
Johannes Bonelli, Intensivmediziner und Direktor von IMABE, weiß um die Tragik solcher Fälle. Aus medizinethischer Sicht gäbe es keine Verpflichtung zu einer „ärztlichen Sterbens- und Leidensverlängerung durch künstliche Ernährung“, sobald der Sterbeprozess eingesetzt hat oder eine entsprechende Patientenverfügung vorliegt. „Allerdings: Wachkoma-Patienten sind keine Sterbenden.“ Entscheidend in der ethischen Beurteilung sei, dass der Entzug von Nahrung bei Wachkoma-Patienten auf die Herbeiführung eines (noch) nicht natürlicherweise eintretenden Todes abzielt. Sterbend im biologischen Sinne ist ein Mensch dann, wenn es zu einem unwiderruflichen und fortschreitenden Prozess kommt, der erfahrungsgemäß in absehbarer Zeit zum Zusammenbrechen lebenswichtiger Organfunktionen und damit zum Tod führt, betont Bonelli. Der Nahrungsentzug hat also wenig mit einem Verzicht auf eine Bekämpfung der Krankheit zu tun, sondern richtet sich gegen das Leben. Dies sei direkte Tötung durch Verhungern bzw. Verdursten und daher ethisch nicht vertretbar, so Bonelli.
Wie schwierig die Diagnose von Wachkoma ist, zeigen die Experten der Deutschen Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie und funktionelle Bildgebung (DGKN) in einer jüngst im Deutschen Ärzteblatt International publizierten Meta-Studie (2015; 112(14): 235-42; DOI:10.3238/arztebl.2015.0235). Die Rate der Fehldiagnosen von Wachkoma sei mit 40 Prozent erschreckend hoch. Dabei werde die im klinischen Alltag wichtige Abgrenzung zwischen Wachkoma und dem Syndrom des minimalen Bewusstseins (SMB) häufig mangelhaft erkannt, kritisiert der Neurologe Andreas Bender. Patienten mit minimalem Bewusstsein würden auf Therapien ansprechen. Da weder Ärzte noch Angehörige dies erkennen, werden sie jedoch nicht angewendet, so die Mediziner.