Das Schicksal von Patienten mit dem seltenen Locked-In-Syndrom (LIS) erscheint extrem schwer zu ertragen: Sie sind praktisch vollständig gelähmt, verfügen aber gleichzeitig über einen wachen, voll funktionsfähigen Geist. Aktuelle Studien bestätigen nun, was Expertenkreise (vgl. Bioethik aktuell, 14.3.2011) schon länger betonen: LIS-Patienten sind durchaus glücklich und schätzen trotz schwieriger Lebensumstände ihre Lebensqualität als überwiegend gut ein - jedenfalls besser, als ihre Angehörigen glauben.
In der kürzlich im Fachjournal Annals of Neurology publizierten Studie (2017; doi: 10.1002/ana.24871) wurden 30 Patienten aus ganz Ostdeutschland, die an einer unaufhaltsam fortschreitenden neurologischen Erkrankung, der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS) litten, darum gebeten, ihre eigene Lebensqualität in einer Werteskala zwischen 0 und 100 Prozent einzuschätzen. Wegen des fortgeschrittenen Stadiums der ALS-Erkrankung, die nach und nach zu Muskelschwund und Lähmungen führt, litten sie bereits unter dem sogenannten Locked-in-Syndrom (LIS). Die Wissenschaftler nutzten für ihre Studie moderne Systeme zur Augensteuerung von Computern. Dank moderner sogenannter Remote-Eyetracker, die auch für Computerspiele eingesetzt werden, haben diese Patienten die Möglichkeit, mit der Bewegung ihrer Augen Computer zu steuern und auf diese Weise zu kommunizieren.
Das Ergebnis war überraschend klar: Die Patienten schätzen ihre Lebensqualität mit 80 Prozent deutlich besser ein als ihre Familienangehörigen. Diese bewerteten die Lebensqualität der ihnen nahestehenden Betroffenen lediglich mit 50 Prozent. Weitere Auswertungen zeigten, dass sich die LIS-Patienten mit der eigenen Situation arrangiert haben. Sie akzeptieren, dass sie an einer schweren Krankheit leiden, bei den Angehörigen stand dagegen das Verlustdenken im Vordergrund.
„Das bedeutet, dass selbst die nächststehenden Angehörigen die eigentlichen Gefühle und Meinungen der Patienten falsch einschätzen“, erklärt Studienleiter Andreas Hermann, Neurologe am Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden. Er folgert daraus, dass Ärzte bei lebenserhaltenden oder -verlängernden Maßnahmen die Patienten selbst befragen sollten - statt sich bloß auf die Angaben zum mutmaßlichen Willen durch die Angehörigen zu verlassen (vgl. IDW, online, 13.2.2017). Die Studie zeigt laut den Forschern außerdem, dass neuartige Kommunikationstechnologien wie das Eyetracking viel zu spät verordnet würden. Damit hätten die Patienten keine Chance, sich frühzeitig daran zu gewöhnen und damit eventuell Entscheidungen für lebensverlängernde Maßnahmen zu treffen.
Erst kürzlich zeigte eine ähnliche, im Plos Biology (Jan 31, 2017) veröffentlichte Studie, dass komplett gelähmte Patienten auf die Frage „Sind Sie glücklich?“ über Wochen hinweg konstant mit „Ja“ antworteten. Alle vier Patienten hatten sich für ihre künstliche Beatmung als lebenserhaltende Maßnahme ausgesprochen und sich damit, so Studienleiter Nils Birnbaumer „auf eine Weise schon entschieden zu leben“ (vgl. APA Science, online, 1.2.2017).
Im Jahr 2010 wurde der damals 56-jährigen Französin Maryannick Pavageau der höchste Orden Frankreichs, die Légion d'honneur, verliehen. Pavageau litt seit 26 Jahren am Locked-in-Syndrom: „Das Leben kann schön sein, unabhängig davon, in welchem Zustand wir uns befinden. Ich bin entschieden gegen Euthanasie, denn nicht das physische Leiden bringt den Todeswunsch mit sich, sondern die Mutlosigkeit, sich bloß als Last zu fühlen“, erklärte Pavageau in einem Interview (vgl. Bioethik aktuell, 9.11.2010).