Worauf stützen sich Ärzte in ethischen Konfliktsituationen? Je jünger sie sind, desto höher ist der Stellenwert von Regeln und Leitlinien, je älter sie sind, desto mehr stützen sie sich auf ihre Erfahrung. Persönliche Werthaltungen und Charakterstärke spielen dabei eine entscheidende Rolle, sagt Kristján Kristjánsson, Professor für Charakterbildung und Tugendethik an der University of Birmingham. Diese würden aber in der medizinischen Ausbildung viel zu wenig eingeübt.
In einer kürzlich veröffentlichten Studie ging Kristjánsson mit Kollegen vom Jubilee Centre for Character and Virtues der Frage nach, welche Rolle Charakter und Tugenden für die britische Ärzteschaft spielen (Virtues in Medical Practice, Research Report 2015). Befragt wurden 549 Personen aus drei Kohorten: Medizinstudenten, Ärzte in Ausbildung und bereits langjährig praktizierende Ärzte. 66 Prozent der erfahrenen Ärzte waren Allgemeinmediziner.
Gerechtigkeit, Ehrlichkeit, Urteilsvermögen, Freundlichkeit, Führungsqualität und Teamarbeit nannten die Mediziner als wichtigste Charaktereigenschaften eines idealen Arztes. Interessant: Charakterstärken wie Klugheit oder Nächstenliebe gingen in der 24-Tugend-Skala unter. 98 Prozent der Befragten gaben an, dass sie emotional in ihre berufliche Arbeit stark involviert sind. Ethisches Handeln ist nie bloß Anwendung von Regeln und Prinzipien, sondern eingebettet in emotionale Betroffenheit, ein berufliches Umfeld, Erwartungshaltungen - und auch in wirtschaftliche Vorgaben. Diese können unterstützend wirken, aber Ärzte auch moralisch unter Druck setzen. Beunruhigend ist für Kristjánsson, dass mehr als 20 Prozent der erfahrenen Ärzte häufige Schwierigkeiten angaben, ihren Beruf den eigenen moralischen Ansprüchen und Idealen gemäß auszuüben. Als Gründe nannten sie: zu wenig Zeit (zu beratschlagen, nachzudenken, im Umgang mit den Patienten), zu hochgeschraubte Ziele und schrumpfende Budgets.
In der Ausbildung würden angehende Ärzte nicht professionell unterstützt, Tugenden, also die konstante Umsetzung von Werten und Prinzipien in der Praxis, zu stärken, so die Autoren. Sie raten, für Studenten einen medizinischen Ethikunterricht einzuführen. Bloß Regeln oder allgemeine Prinzipien zu vermitteln, sei dabei nicht genug. Gerade weil die Medizin immer komplexer werde und die Verantwortungsbereiche wachsen, sei der Erwerb einer praktischen moralischen Weisheit (phronesis) wichtig, so Kristjánsson (vgl. Bioedge, online, 3. 4. 2015). Moralische Konflikte würden sich im medizinischen Alltag selten bloß in Schwarz-Weiß-Situationen zeigen. Viel eher kann es zur Konkurrenz von Werten kommen. Dann stellt sich die Frage, was mehr wiegt und wie damit umzugehen ist (Autonomie vs. Fürsorge, Einzelfall vs. Regel, Team vs. Partikularinteresse usw.). Medizinstudenten und Jungärzten müsse Raum und Zeit gewidmet werden, wo sie moralische Dilemmata diskutieren und reflektieren können.