Eine an Demenz erkrankte Frau wartet auf ihren Mann. Sie weiß nicht mehr, dass er schon verstorben ist. Ist es moralisch vertretbar, ihr zu sagen, dass ihr Mann bald wiederkommt? Immer wieder müssen Menschen, die Demenzkranke behandeln und betreuen, ethische Entscheidungen dieser Art treffen. Dabei sollen ihnen klinische Leitlinien Orientierung bieten. Doch eine Studie von Wissenschaftlern der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH), die jüngst in PLOS Medicine (10(8): e1001498. doi:10.1371/journal.pmed.1001498) erschien ergab, dass diese national unterschiedlichen klinischen Leitlinien zur Demenz durchschnittlich nur rund die Hälfte von 31 wichtigen ethischen Herausforderungen ansprechen. Die Forscher hatten in ihrer von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Studie Leitlinien aus zwölf Ländern untersucht, heißt es in der Pressemitteilung Informationsdienst Wissenschaft (online, 19. 8. 2013).
„Die Leitlinien weisen nur 22 Prozent (Schweiz) bis 77 Prozent (USA) von 31 wichtigen ethischen Herausforderungen auf“, sagt Studienleiter Daniel Strech vom MHH-Institut für Geschichte, Ethik und Philosophie der Medizin. Sie enthielten sehr unterschiedliche Herausforderungen. Einige umfassen ethische Empfehlungen - teilweise auch mit Begründungen oder Literaturhinweisen. „Elf Leitlinien erwähnen vier ethische Herausforderungen überhaupt nicht - beispielsweise die adäquate Berücksichtigung von Patientenverfügungen und Betreuungsvollmachten oder den angebrachten Umgang mit Lebensmüdigkeit.“ In keiner Anleitung zur Erstellung klinischer Leitlinien stehe, wie krankheitsspezifische ethische Herausforderungen integriert werden können. Sechs Leitlinien wurden von staatlichen Institutionen entworfen (Australien, Frankreich, Malaysia, Neuseeland, Singapur, Großbritannien), vier von medizinischen Fachgesellschaften (Kanada, Deutschland, Schottland, USA), eine von einer Krankenkasse in Kooperation mit einer Medizinischen Universität (Österreich) und eine von einer Expertenkommission (Schweiz). In der deutschen Leitlinie bleibe unter anderem offen, wie mit Zwangsmaßnahmen, versteckter Medikamentengabe oder Lebensmüdigkeit umgegangen werden sollte. Ethische Aspekte sollten besser in klinische Leitlinien integriert werden.