Ein drastischer „Kind als Schaden“-Fall (Anita KRUZMANE against Latvia no. 33011/08) beschäftigt derzeit den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR): Gibt es in der EU ein Grundrecht auf die vorgeburtliche Tötung eines Kindes aus eugenischen Gründen? Beim Streitfall handelt es sich um eine Lettin, die als 40-Jährige im Jahr 2001 ein Kind mit Down-Syndrom zur Welt brachte. Sie klagte daraufhin ihren Arzt auf Schadenersatz für emotionalen Stress und finanzielle Schäden. Er hätte sie nicht eindringlich genug auf die Möglichkeit eines pränatalen Screenings auf Down-Syndrom hingewiesen, was ihr die Möglichkeit geraubt habe, sich frei zu entscheiden, das Mädchen auszutragen oder abzutreiben. Die lettischen Gerichte wiesen diese Forderung zurück. Der Arzt habe die Frau untersucht und ihr geraten, einen Spezialisten aufzusuchen, was sie jedoch unterließ. Für den Umstand, dass er nicht nochmals nachgefragt hatte, ob sie seinen Anweisungen gefolgt war, wurde er 2002 von den lettischen Gerichten zu einer Geldstrafe wegen Nachlässigkeit verurteilt.
Nun wendet sich die Lettin unter Berufung auf Artikel 8 der Menschenrechtskonvention „Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens“ an den EGMR. Dieses ihr Recht sei verletzt worden und könne, so argumentiert sie, nur garantiert werden, wenn dieser Trisomie-21-Test als Grundausstattung in der Vorsorge von Schwangeren angeboten werde.
Erstmals sollen nunRichter die Frage eines Rechts auf Abtreibung im Zusammenhang mit der „Krankheit“ eines Kindes prüfen. Der bevorstehende Entscheid wird als Präzedenzfall gewertet, ob es in Zukunft einen formal rechtlich sanktionierten Mechanismus für die Beseitigung von Menschen mit Behinderung geben wird.
Menschenrechtsaktivisten und Behindertenverbände laufen Sturm: Die Plattform Stop Eugenics Now fordert in einer Deklaration, dass Eugenik nicht zu einem Menschenrecht erklärt werden darf. Wenn es „als Menschenrecht anerkannt“ würde, „das Leben eines Kindes mit Down-Syndrom vor seiner Geburt zu beenden“, führe dies dazu, eine Gruppe von Personen „wegen ihres Genoms zu stigmatisieren“ sowie einen „Mechanismus ihrer Eliminierung einzuführen“.
In Österreich haben sich jüngst Vertreter von FPÖ und ÖVP erneut für eine Beseitigung der eugenischen Indikation (vgl. Pressemitteilung, 04. 05. 2012) und der „pränatale Rasterfahndung“ (vgl. Die Presse, online, 03. 05. 2012) ausgesprochen.