Steht eine neue Welle der Medikalisierung und Pathologisierung des normalen Lebens bevor? Darf man nach dem Tod eines geliebten Menschen trauern, oder muss man für behandlungsbedürftig gehalten und dann auch gleich mit einer medikamentösen Therapie beglückt werden? Seit Monaten tobt ein Streit, welche neuen psychiatrischen Krankheitsformen in das wichtigste Handbuch für Psychiater aufgenommen werden sollen - und wo die American Psychiatric Association (APA), die das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM), veröffentlicht, schlicht zu weit geht. Gegen deren Vorhaben gibt es inzwischen nämlich massiven Widerstand. Mehr als 12.650 Mediziner haben bereits in einer Petition (Stand: 19.3.2012) gegen eine geplante Ausweitung der psychiatrischen Diagnosen protestiert.
Laut dem US-Psychiater Allen Frances (Spiegel online, 8.3.2012), Schirmherr der derzeit gültigen Ausgabe DSM-4, könnte das neue DSM-5 zehn Millionen neue, aber falsche Patienten schaffen, es sei dann kaum noch möglich, ohne geistige Störung durchs Leben zu kommen, kritisiert Frances. In der ersten Fassung von 1952 gab es 106 psychische Leiden, im aktuellen DSM-4 sind es mehr als dreimal so viele. Nun aber sollen auch "risk syndromes“, also bloße Vorstufen bzw. Risikofaktoren im psychischen Bereich aufgenommen werden. Diese könnten als Frühwarnzeichen für künftige ernste Probleme der mentalen Gesundheit interpretiert und als Startzeichen für eine frühe Behandlung genutzt werden.
Eine reichere Palette an Krankheiten könnte der Pharmaindustrie eine Steigerung des Absatzes ihrer Produkte bescheren. Tatsächlich konnten Lisa Cosgrove von der Harvard University und der University of Massachusetts und Sheldon Krimsky von der Tufts University in Boston, USA, durch eine aktuelle Publikation in PLoS Med (9(3): e1001190. doi:10.1371/journal.pmed.1001190.1001190) zeigen, dass 69 Prozent der Mitglieder der Arbeitsgruppe zu DSM-5 Verbindungen zur Pharmaindustrie offengelegt haben. Die Autorinnen betonen zugleich, dass die Offenlegung möglicher finanzieller Interessenkonflikte nicht zwingend den Einfluss der Pharmaindustrie senkt. Das zeigten Ergebnisse aus der Sozialpsychologie: Sobald ein Arzt von Pharmafirmen diverse Vergütungen für Beratertätigkeit, Fortbildung usw. bekommt, entstehen positive Haltungen gegenüber diesen Firmen, die in Entscheidungen, Begutachtungen usw. miteinfließen. Sie fordern deshalb eine komplette Entflechtung der DSM-Arbeitsgruppenmitglieder und der Pharmaindustrie, denn es brauche eine „unvoreingenommene, evidenz-basierte DSM, frei von jeglichen Interessenkonflikten“, so die Autorinnen.