In Deutschland haben rund 8,2 Prozent der derzeit Pflegebedürftigen einen Migrationshintergrund. Bis 2030 wird der Anteil der heute 60-Jährigen und Älteren dieser Gruppe auf rund 24 Prozent der Bürger in Deutschland steigen. Die Pflege ist auf diese Veränderung bislang unzureichend vorbereitet, stellt die Medizinsoziologin Hürrem Tezcan-Güntekin von der Universität Bielefeld fest. In einer im Deutschen Ärzteblatt veröffentlichten Arbeit (Dtsch Arztebl 2015; 112(39): A-1564/B-1304/C-1274) zeigt die Medizinsoziologin auf, welche spezifischen Bedürfnisse in der Pflege bei Menschen mit Migrationshintergrund zu berücksichtigen sind. Zwar würde sich vieles innerhalb der Bevölkerungsgruppen ähneln, dennoch bestünden in einigen Punkten wesentliche Unterschiede. Türkisch-stämmige Menschen werden zu 98 Prozent zu Hause gepflegt, so Tezcan-Güntekin. Dies gehöre zum Selbstverständnis der Familie. Wenn eine Einwandererfamilie pflegerische Hilfen in Anspruch nimmt, läuft sie Gefahr, innerhalb der Community stigmatisiert zu werden. Außerfamiliäre Pflege wird in vielen Kulturen abgelehnt. Die psychische Belastung der pflegenden Angehörigen sei noch höher als bei Menschen ohne Migrationshintergrund.
Erschwerend kommt hinzu, dass psychiatrische Erkrankungen - wie zum Beispiel Demenz - in einigen Kulturen oder Religionen tabuisiert sind. Die betroffenen Familien sind oder fühlen sich dadurch von ihrem sozialen Umfeld isoliert. Auffallend sei bei Demenzerkrankungen, dass Menschen mit Migrationshintergrund sehr früh die als Fremdsprache erlernte deutsche Sprache verlieren. Im Falle türkischer Gastarbeiter sei es „fast wie bei ihrer Ankunft in Deutschland wie vor 40 Jahren“, erzählte die Autorin jüngst bei der AEM-Tagung Das Fremde verstehen in Frankfurt. Sowohl Diagnostik als auch pflegerische Versorgung dieser Personen sind durch die Sprachbarriere speziell herausfordert.
Tezcan-Güntekin glaubt, dass die pflegerischen und psychosozialen Angebote in Deutschland nur unzureichend auf die zunehmende Diversität der Nutzer ausgerichtet sind. Ein Viertel der Befragten mit Migrationshintergrund hätten in einer repräsentativen Studie angegeben, keine pflegerischen Angebote außer Pflegegeld zu nutzen, weil kulturelle und religiöse Belange nicht ausreichend berücksichtigt würden.
Epidemiologisch gesehen werden Menschen mit Migrationshintergrund im Durchschnitt mit 62 Jahren pflegebedürftig und damit zehn Jahre früher als deutsche Pflegebedürftige. Gründe dafür sind unter anderem die dauerhafte und belastende Berufstätigkeit sowie sozioökonomische Faktoren.