Kurz schien es, als ob in bioethischen Fragen Deutschland zum Vorbild für Österreich werden könnte und parteiübergreifende Initiativen im Parlament möglich wären. Die Hoffnung war jedoch offenbar verfrüht. SP-Gesundheitsministerin Sabine Oberhauser sieht keinen Handlungsbedarf bei der in Österreich auch nach 40 Jahren noch geltenden eugenischen Indikation, also der Möglichkeit, ein Kind allein aufgrund einer vermuteten oder tatsächlichen Behinderung abzutreiben - und zwar bis zur Geburt. Ihr Parteikollege SPÖ-Behindertenanwalt Erwin Buchinger hatte die Spätabtreibung behinderter Kinder in Österreich zuletzt als „schreiendes Unrecht“ bezeichnet, ÖVP-Behindertensprecher Franz-Joseph Huainigg forderte ebenfalls die Abschaffung, da sie eine „unerträgliche Diskriminierung“ von Behinderten darstelle.
In einer offiziellen Antwort, die Unterstützer einer Petition gegen Spätabtreibung wegen Behinderung per Email erhielten, spricht Oberhauser von „Qualitätskontrolle“, einem „Recht auf Abtreibung“ und argumentiert mit einer „Notwendigkeit“ eines Abbruches wegen schwerer geistiger oder körperlicher Schädigung. Es dürfe weder Druck auf Schwangere ausgeübt noch Schuldgefühle erzeugt werden. Die Presse-Kommentatorin Gudula Walterskirchen kritisiert die Tabuisierung des Themas in Österreich: „Es darf nicht einmal Zahlen zu Abtreibungen und Motiven geben. Alles läuft im Verborgenen ab. Vorbild könnte Deutschland sein, wo es nicht nur eine gute Datenlage, sondern auch eine sachliche Debatte zum Thema gibt. Die Spätabtreibung allein wegen Behinderung des Kindes ist in Deutschland strafbar. Es wird Beratung und Hilfestellung für Schwangere in einem Abtreibungskonflikt angeboten. Der Erfolg stellte sich bereits ein: Die Abtreibungszahlen gehen zurück“, so Walterskirchen (vgl. Die Presse, online, 30. 3. 2015).
Bleibt der Schwangerschaftsabbruch in Österreich ein politisches Tabu? „40 Jahre nach Einführung der Fristenregelung sind es die betroffenen Frauen selbst, die das Thema Abtreibung aus der gesellschaftlichen Tabuzone holen wollen“, sagt IMABE-Geschäftsführerin Susanne Kummer. Jede fünfte Frau hat in ihrem Leben einmal abgetrieben, so die Schätzungen, viele leiden später an den Folgen. „Es wird geschätzt, dass von zehn Frauen, die eine Abtreibung vornehmen lassen, nur zwei Frauen symptomfrei bleiben. Circa zwei bis vier Frauen entwickeln eine wirkliche Erkrankung wie Depressionen oder Angsterkrankungen, sagt die deutsche Trauma-Therapeutin Angelika Pokropp-Hippen. Dennoch gäbe es eine „Mauer des Schweigens“ rund um das Thema Abtreibung. Erst kürzlich hatte ARTE darüber in einer bemerkenswerten 50-minütigen Dokumentation berichtet, und Frauen und Experten zum Tabu Abtreibung interviewt (Tabu Abtreibung - Warum länger schweigen? 17. 3. 2015).