Der Trend ist besorgniserregend: Kindern und Jugendlichen werden immer häufiger Psychopharmaka verschrieben. So stieg in Österreich die Zahl der Jugendlichen, die Antidepressiva erhielten, zwischen 2009 und 2012 von rund 36.300 auf 41.000, und bei der Gruppe der Null- bis Vierjährigen ist die Zahl von 1.600 auf 2.200 geklettert. Das geht aus einem 70 Seiten starken Bericht zur Lage der Antidepressiva für Kinder 2005-2012 (online, 21. 1. 2014) des Bundesministeriums für Gesundheit hervor, der kürzlich auf eine parlamentarische Anfrage des Team Stronach veröffentlicht wurde.
In den letzten Jahren zeigte sich in vielen westlichen Industrieländern sowohl im Erwachsenen- als auch im Kinder- und Jugendbereich eine deutliche Zunahme (bis zu 750 Prozent zwischen 1993 - 1998 und 2005 - 2009) der Verordnung von Antipsychotika. In Deutschland etwa stieg von 2005 bis 2012 der Anteil jener jungen Patienten, die zur Behandlung ihrer Symptome mindestens ein Neuroleptikum - auch Antipsychotika genannt - erhielten, um 41 Prozent. Die Antidepressiva- Verordnungen stiegen um 49,2 Prozent, die Verschreibungen von ADHS-Medikamenten (Stimulanzien, z. B. Atomoxetin) gar um 62,4 Prozent.
Dies ist das Ergebnis einer Auswertung, die jüngst im Deutschen Ärzteblatt (2014; 111(3): 25- 34; DOI:10.3238/arztebl.2014.0025) publiziert wurde. Für ihre Analyse hatten die Studienautoren um den Kinder- und Jugendpsychiater Christian Bachmann von der Universität Marburg die Versichertendaten der Barmer GEK von mehr als 1,5 Millionen Kindern und Jugendlichen ausgewertet.
Wie aber lässt sich der Anstieg der Verordnungen erklären? Anders als in Österreich, wo etwa Psychiaterin Gabriele Fischer von der Medizinischen Universität Wien die Zunahme der Verschreibungen begrüßte, diese einer verbesserten Diagnostik zuschrieb und schließlich einen Mangel an Kinderpsychiatern beklagte (vgl. Ö1-Interview, online, 23. 1. 2014), stellt sich die Lage für deutsche Kollegen etwas anders dar.
Bachmann und seine Kollegen vermuten drei Gründe für den Trend: Medikamentöse Therapien durch Antipsychotika lassen sich schneller verschreiben als eine psychotherapeutische Behandlung in Gang zu setzen. Zweitens kann die vermehrte Verschreibung von Antipsychotika auch die Folge des intensiven Marketings pharmazeutischer Unternehmen sein. Und nicht zuletzt: Wo es mehr Ärzte gibt, da gibt es auch mehr Verschreibungen. Die Zahl der Kinderpsychiater ist im Untersuchungszeitraum um 61 Prozent gestiegen, die der Pädiater um 10 Prozent. Eine Zunahme psychischer Störungen lasse sich dagegen nicht belegen.
Die Studienautoren fordern angesichts der Diskrepanz zwischen vorhandener Evidenz und Verschreibungspraxis Langzeitstudien, die Wirkungen und Nebenwirkungen von Antipsychotika bei Kindern und Jugendlichen untersucht.