Ärzten steht im klinischen Alltag eine Fülle an Daten zur Verfügung. Die richtige Auswahl, das Abwägen, die Zusammenschau und schließlich eine kluge Entscheidung bilden das Gesamt eines guten klinischen Denkprozesses.
In einem Hamburger Ausbildungsforschungsprojekt zeigte sich, dass Studenten Anleitung und Vorbilder brauchen, um zu erkennen, dass sich mit weniger Diagnostik genauso präzise korrekte Diagnosen stellen lassen. Das berichtet die Internistin Sigrid Harenzda vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf im Deutschen Ärzteblatt (Dtsch Arztebl 2015; 112(50): A-2129/ B-1756/ C-1702) aus einer Studie mit Medizinstudenten im 12. Semester aus den Niederlanden und Deutschland. So forderten die deutschen Studenten am ersten Krankenhaus-Arbeitstag signifikant mehr Labor- und Röntgendiagnostik für ihre Schauspielpatienten an als ihre niederländischen Kollegen. Diese kamen trotz geringerer Diagnostik zu ebenso exakten Diagnosen.
Die Reflexionsfähigkeit der eigenen Entscheidungen und des daraus resultierenden Verhaltens zählen zu den wichtigsten ärztlichen Eigenschaften, so die stv. Klinikdirektorin. Im Kurs übten die Studierenden, Patienten nicht nach Algorithmen „abzuarbeiten“, sondern ihre Denkprozesse zu erläutern und damit Verantwortung für ihre Entscheidungen zu übernehmen. Gefahren lauern laut der Internistin u. a. im systematischen Überschätzen der eigenen Kompetenz (overconfidence bias), im sich Abbringenlassen von der Wahrheit der Zahlen (base rate neglect) oder dem sich vorschnell Zufriedengeben mit vermeintlich passenden Daten (premature closure, confirmation bias). „Gelingt es nicht, die Prozesse und Denkfehler, die sich einschleichen können, schon im Studium ins Bewusstsein zu rufen, wird sich die Problematik von Überdiagnostik und -therapie in ärztlichen Arbeitsprozessen vermutlich nur wenig verbessern lassen“, warnt die Medizinerin.
Lukas P. Mileder, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Clinical Skills Center der Medizinischen Universität Graz zeigte in einer in Medical Education Online (2014; 19(2): 23479-23479) publizierten Fallstudie, wie dramatisch sich schlechte Vorbilder in der Ausbildung auf Jungärzte auswirken können: Negativ-Erfahrungen hemmen und verunsichern langfristig die Person, ihren Umgang mit Patienten und Kollegen. Frühere Erhebungen hatten bereits gezeigt, dass 61 Prozent der Medizinstudenten mindestens einmal Zeugen eines unethischen Verhaltens innerhalb des Ärzteteams waren. Diese Studenten waren viel eher geneigt, selbst unethisch zu handeln. 62 Prozent gaben an, dass einige ihrer ethischen Prinzipien erodiert oder seit Beginn des Medizinstudiums verloren gegangen waren. 38 Prozent der Medizinstudenten waren unzufrieden über die persönliche Entwicklung ihres Berufsethos.
Eine australische Studie aus 2015 zeigte, dass Medizinstudenten nach einem Jahr in ihren klinischen Tutoren positive Vorbilder sahen, wenn diese ausgezeichnete Kliniker, leidenschaftliche Lehrer und im Stande waren, ohne Zeitdruck eine Beziehung zu den Studenten aufzubauen. Besonders schätzten sie im Umgang mit den Patienten Charaktereigenschaften wie Einfühlungsvermögen, Respekt und echtes Mitgefühl (vgl. BioMedCentral Medical Education 2015; 15: 17, DOI: 10.1186/ s12909-015-0303-8).