Überversorgung ist eine Realität in der medizinischen Behandlungslandschaft. Die Initiative Klug Entscheiden, die von der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) angestoßen wurde, will dies ändern. Sie inspiriert sich dabei am amerikanischen Choosing Wisely-Programm, das 2012 vom American Board of Internal Medicine (ABIM) ins Leben gerufen wurde. Während Choosing Wisely nur den Aspekt der Überversorgung in den Blick nimmt, will die DGIM auch gegen das Problem der Unterversorgung - etwa bei chronischen Schmerzpatienten - vorgehen. Dort, wo Maßnahmen häufig unterlassen werden, obwohl deren Nutzen wissenschaftlich belegt ist, gibt sie Positivempfehlungen ab. Alles, was nicht tatsächlich notwendig ist und/oder nicht wirkt, soll dagegen unterlassen werden (Negativempfehlung). Jede der 12 an der Initiative teilnehmenden Fachgesellschaften hat im Konsens 5 Positiv- und 5 Negativ-Empfehlungen erstellt, inzwischen gibt es 120 sogenannte Klug entscheiden-Empfehlungen, die nach und nach im Deutschen Ärzteblatt veröffentlicht werden sollen (vgl. FAZ, online, 27.4.2016).
Im Rahmen der Initiative befragte die DGIM vorab 4.181 Internisten über das Problem der Über- und Unterversorgung. 70 Prozent gaben an, mehrmals am Tag oder in der Woche mit Überversorgung konfrontiert zu sein. Mehr als 80 Prozent sehen darin ein Problem, fast alle Befragten sind sich bewusst, dass die Medizin dadurch teurer wird. Mehr als zwei Drittel äußerten die Ansicht, dass die unnötigen Leistungen die Kranken verunsichern und den Patienten möglicherweise schaden. Unterversorgung wird dagegen als nachrangig betrachtet, berichtet Gerd Hasenfuß, Direktor der Klinik für Kardiologie und Pneumologie am Herzzentrum der Universität Göttingen anlässlich des 122. Deutschen Internistenkongresses in Mannheim (vgl. Medscape, online, 8.4.2016).
Worin liegen die Gründe der Fehlversorgung von Patienten? 80 Prozent der Befragten nannten die Angst vor Behandlungsfehlern als Grund für Überversorgung. 63 Prozent das Drängen von Patienten auf bestimmte Untersuchungen, berichtet Hasenfuß. Zudem seien Leitlinien in der Regel zu lang, unübersichtlich und unverständlich. „Das Leitlinien-Wissen kommt oft nicht an, es ist aber auch sehr schwer, dies aus allen Fachbereichen stets parat zu haben.“ Außerdem würden die meisten Leitlinien nur wenige oder gar keine Negativempfehlungen enthalten. Etwas sein zu lassen wird deutlich seltener formuliert als etwas zu tun, schreiben Mitglieder der Konsensuskommission Klug Entscheiden im Deutschen Ärzteblatt (Dtsch Arztebl 2016; 113(13): A-600 / B-506 / C-502). Ähnlich steht es um die Praxis der medizinischen Aus-, Weiter- und Fortbildung. Angehende Ärzte werden auf das „Machbare“ getrimmt. Kaum analysiert werde jedoch das, was nicht erforderlich, nicht sinnvoll oder gar schädlich ist, so die Mediziner. Schon im Medizinstudium liege der Fokus überwiegend darauf, was an diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen möglich ist - und nicht auf dem individuell Sinnvollen. Auch finanzielle Anreize spielen in der Überversorgung eine Rolle, Spitäler können damit auch Geld verdienen (vgl. Bioethik online, 12.3.2015).
Ein offenes Problem der Initiative ist die Evaluierung. Auch wenn man weiß, dass unnötige MRT-Untersuchungen etwa bei unspezifischen Rückenschmerzen gemacht werden (vgl. Bioethik aktuell, 17.10.2011), gibt es keine Zahlen dazu. Ein Drittel der kognitiven Defizite älterer Patienten gehen auf die Anwendung von Psychopharmaka zurück, eine rationale Arzneimitteltherapie sei deshalb ein wichtiger Schlüssel der Prävention. Auch hier müsste zur Absicherung und Evaluierung der Klug Entscheiden-Empfehlungen die passende Versorgungsforschung vorangetrieben werden, so das Fazit des Deutschen Internistenkongresses.