Ärzte und Pflegekräfte der kanadischen Provinz Ontario räumen ein, in 428 Fällen die gesetzlichen Vorschriften zur „aktiven Sterbehilfe“, genannt: Medical Assistance in Dying (MAID) wissentlich umgangen zu haben. Der Skandal: Keine der zwischen 2018 und 2024 begangenen Straftaten, die zum Tod der Patienten führten, wurde gerichtlich verfolgt. Diese bislang der Öffentlichkeit vorenthaltenen Daten sickerten nun dank der Intervention dreier anonymer Ärzte durch. Diese alarmierenden Daten wurden in The New Atlantis (online, 11.11.2024) von Alexander Raikin, Gastdozent am Ethics and Public Policy Center in Washington veröffentlicht.
Pro Tag sterben 36 Kanadier durch „Sterbehilfe“ – das spart Geld
Kanada rühmt sich seiner strikten strafrechtlichen Regelung von Tötung auf Verlangen und assistiertem Suizid. Das Gesetz, das 2016 in Kraft trat, war für Ausnahmefälle gedacht. Doch Euthanasie ist mittlerweile Routine und kostet täglich 36 Personen das Leben – ein Ergebnis, auf das der kanadische Gesundheitsminister „stolz“ ist (4. MAID-Report 2022). In den 13.241 Fällen von Tötung auf Verlangen im Jahr 2022 gaben 59 Prozent der Betroffenen an, dass die Schmerzkontrolle unzureichend sei bzw. sie Angst davor hätten – ein Umstand, der weniger auf Selbstbestimmung als auf ein Versagen des Gesundheitssystems hindeutet (vgl. Cardus-Report 2024: From Exceptional to Routine: The Rise of Euthanasia in Canada).
Skandalfälle, in denen Patienten ohne expliziten Wunsch eine Todesspritze statt einer Therapie angeboten wurde, haben Aufsehen erregt (Bioethik aktuell, 6.9.2022). Bereits 2017 hatten kanadische Gesundheitsökonomen vorgerechnet, wieviel Geld sich durch Tötung auf Verlangen im Gesundheitssystem einsparen lasse (Bioethik aktuell, 6.2.2017).
Ein zahnloses Gesetz, Verstöße werden nicht geahndet
Das kanadische Parlament hatte 2016 verpflichtende gesetzliche Schutzmaßnahmen gegen Missbrauch erlassen. Ärzten und Krankenpflegern drohen Gefängnisstrafen von bis zu 14 Jahren bei Missachtung der Gesetzesvorgaben. In Ontario ist das Büro des obersten Gerichtsmediziners für die rechtliche Überwachung der Euthanasie-Fälle verantwortlich. Büroleiter Dirk Huyer rühmt sich, dass jeder Fall genau geprüft und entsprechend geahndet werde. Doch die internen Dokumente seiner Abteilung enthüllen einen sorglosen Umgang mit den strafrechtlichen Verstößen.
Grobe Nichteinhaltung der Vorschriften: Fehlende Dokumente und verkürzte Wartefristen
In vielen der erwähnten Fälle wurden Dokumente, die die „Eignung“ für MAID belegen sollen, nicht vollständig ausgefüllt oder fehlten komplett. So wurde die 10-tägige Bedenkzeit der Patienten nicht dokumentiert oder willkürlich verkürzt. Das Einhalten der Frist ist essenziell, um suizidgefährdete Menschen, die verzweifelt sind und ihre Einstellung womöglich ändern könnten, zu schützen. Die Nichtbereitstellung solcher Dokumente ist daher kein leichtfertiges Vergehen und widerspricht den gesetzlich vorgeschriebenen Schutzmaßnahmen.
Für Patienten, bei denen keine todbringende Krankheit vorliegt, beträgt die Bedenkzeit mindestens 90 Tage. Aus dem Report geht hervor, dass in 13 Prozent dieser Fälle nach weniger als 90 Tagen eine Tötung auf Wunsch durchgeführt wurde. Mitunter spielte der Wunsch der Angehörigen eine Rolle, wie der Fall eines Mannes zeigt, der durch einen Schlaganfall erblindete. Sein Todesdatum wurde auf Grund der zeitlichen Präferenzen der Ehepartnerin vorverlegt.
Zulassung zur Euthanasie trotz widersprüchlicher Krankenakten
Immer wieder ist unklar, ob Patienten tatsächlich im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte sind, um einer Tötung auf Verlangen aus freiem Willen zustimmen zu können. In einigen Fällen lagen widersprüchliche Aussagen von MAID-Gutachter hinsichtlich der Einwilligungsfähigkeit vor. Trotz dieser nicht miteinander vereinbarenden klinischen Beurteilungen wurde „aktive Sterbehilfe“ durchgeführt. Huyers Report vermerkt dazu bloß „Mängel an formellen Fähigkeitsbewertungen oder weiteren Facharztkonsultationen“. Nach Patiententötungen ist es nahezu unmöglich festzustellen, ob eine Einwilligungsfähigkeit vorlag oder nicht.
Vorgeschriebene Konsultationen durch Fachärzte wurden nicht durchgeführt
In 35 Prozent der Fälle, die der Behörde gemeldet wurden, lagen bei den Patienten eine Demenz, nicht-terminale Erkrankungen oder chronische Schmerzen vor. Im Falle dieser nicht zum Tod führenden Erkrankungen müssen Fachärzte konsultiert werden, um zu evaluieren, ob tatsächlich alle möglichen medizinischen Therapien ausgeschöpft wurden. In mehreren Fällen gaben jene Ärzte und Pflegefachkräfte, die Tötungen auf Wunsch durchführten, an, weder entsprechenden Fachleute konsultiert zu haben noch selbst die entsprechende Expertise zu besitzen. Dies ist ein weiterer verheerender Verstoß gegen die Schutzmaßnahmen für vulnerable Patienten.
Statt strafrechtlicher Verfolgung wurden Emails verschickt
Entgegen der Versicherung, dass bei Missachtung der Gesetze mit strafrechtlichen Folgen zu rechnen ist, kam es in keinem einzigen der 428 Fälle zu einer Anzeige oder Strafverfolgung seitens der Behörde. Als Maßnahme gegen die anhaltenden Verstöße wurden stattdessen lediglich „aufklärende“ Emails versendet. Selbst ein äußerst gravierender Fall, bei dem festgestellt wurde, dass ein Arzt mehrere gesetzliche Vorgaben missachtet hatte und den Büroleiter Huyer in einem internen Video selbst als „einfach schrecklich“ bezeichnete, wurde lediglich dem College of Physicians and Surgeons of Ontario (CPSO) gemeldet, nicht aber der Polizei. Im Jahr 2023 zeigte sich sich die Aufsichtsbehörde in Ontario besorgt, da sich ein Viertel des in Ontario an „Sterbehilfe“ beteiligten Gesundheitspersonals nicht an die Vorschriften hält.
Aufsichtsbehörde verdeckt Missbrauch
„Meiner Meinung nach sollte jeder Verstoß gegen das MAID-Gesetz, da es sich um ein Strafgesetz handelt, grundsätzlich der Polizei (...) gemeldet und auf jeden Fall von einem unabhängigen Staatsanwalt untersucht werden“, betont Trudo Lemmens, Lehrstuhlinhaber für Gesundheitsrecht und -politik an der University Toronto (The New Atlantis, 11.11.2024). Die Aufsichtsbehörde erfüllt offenkundig nicht ihre Schutzfunktion. Viel eher trägt sie dazu bei, den Missbrauch seitens des Gesundheitspersonals zu verdecken, resümiert der Bioethiker und Verfasser des Berichts, Alexander Raikin. Er spricht von einem „Muster der Nichteinhaltung“ gesetzlicher Vorgaben, das sich über die Jahre verfestigt hat.