Zu häufige Verschreibung von Antibiotika, überflüssige CT-Untersuchungen, zu rasche Operation bei Gelenksbeschwerden: Weniger Medizin kann mehr sein. Der Gedanke dahinter: Nicht immer ist medizinisches Handeln am Patienten sinnvoll und notwendig. Die US-amerikanische Ärzteinitiative Choosing wisely listet seit 2012 ärztliche Leistungen auf, die sich als wirkungslos oder sogar schädlich erwiesen haben (vgl. IMABE April 2012 USA: Kampagne gegen unnötige kostspielige Diagnoseverfahren). Eine ähnliche Initiative startete die Schweizer Gesellschaft für Innere Medizin (SGIM) 2014 unter dem Namen Smarter Medicine. Basis der Kampagne bildet eine Liste mit Interventionen im Rahmen der Allgemeinen Inneren Medizin (AIM), von deren Anwendung abgeraten wird. Sie stellen keinen messbaren Nutzen für den Patienten dar, ihr Risiko ist u. U. sogar höher als der potentielle Nutzen. Die Schweizer Ärztekammer hat inzwischen alle Fachgesellschaften aufgefordert, sich mit weiteren Ratschlägen einzubringen, auch Spitäler und Patientenschutzorganisationen (vgl. Schweizerische Ärztezeitung, 2015; 96(5): 130.131).
Die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) will ebenfalls Überbehandlung vermeiden und damit auch Kosten senken. Eine neue DGIM-Task Force Unnötige Leistungen soll dafür das Bewusstsein schärfen. „Viele medizinische Eingriffe bedeuten auch eine Belastung für den Patienten“, sagt DGIM-Vorsitzende Michael Hallek (Deutsches Ärzteblatt, online, 24. 2. 2015). Er fordert, dass das Gespräch mit dem Patienten, das eine wichtige ärztliche Tätigkeit darstellt, „künftig besser honoriert werden muss, auch wenn der Arzt anschließend keine weitere Untersuchung anordnet oder kein Medikament verschreibt“, so der Internist.
Werden Patienten möglicherweise auch aus ökonomischen Gründen überbehandelt, gestützt durch ein System der falschen finanziellen Anreize oder auch ein fehlgeleitetes Anspruchsdenken? Kostspielige bildgebende Diagnoseverfahren werden in Österreich häufiger genutzt als in anderen Ländern: Während im EU-Durchschnitt auf 1.000 Menschen 98 Computertomographie-Untersuchungen kommen, sind es in Österreich 133,4 CTs pro 1.000 Bürger (DOI: 10.1787/health_glance_eur-2014-graph61-en). Kritik an falschen Anreizen im Gesundheitssystem ließ der Rechnungshofbericht 2010: Orthopädien in ausgewählten Wiener Spitälern jedenfalls durchklingen: Im Durchschnitt erbrachte dort ein orthopädisch operativ behandelter Patient nach dem LKF-System rund 5.400 LKF-Punkte, ein konservativ Behandelter hingegen nur rund 1.200 LKF-Punkte. Insider sprechen auch vom „Upgraden“ der Diagnose zwecks höherer Abrechnungsmöglichkeiten.
Die aktuellen Zahlen des OECD-Gesundheitsreport Health at a Glance 2014 könnten in diese Richtung weisen: Österreich ist Europas Nummer Eins bei 217 künstlichen Kniegelenken pro 100.000 Einwohner (OECD Indicators DOI: 10.1787/health_glance_eur-2014-graph77-en), dicht gefolgt von Finnland (208) und Deutschland (207). Der OECD-Durchschnitt liegt bei 113. Zum Vergleich: In Italien liegt die Zahl bei 104 künstlichen Kniegelenken pro 100.000 Einwohner, in Irland bei nur 22.
Auch beim Einbauen von Hüftprothesen liegt Österreich mit 272 neuen Hüften pro 100.000 Einwohner nur knapp hinter der Schweiz (292) und Deutschland (287) an dritter Stelle - jedenfalls aber weit über dem EU-Durchschnitt von 157. Prothesen müssen nach rund 15-20 Jahren gewechselt werden, damit steigt die Zahl der Operationen automatisch mit wachsendem Patientengut.