Ärzte sollten mit Wahrhaftigkeit kommunizieren, den Patienten sagen, was sie wissen und heraushören, was Patienten wissen wollen. Ein Vermeiden schwieriger Aufklärungsgespräche führe bloß zu „unsinnigen Operationen und Chemotherapien“, warnt der Münchner Palliativmediziner Marcus Schlemmer. Viele teure Therapien würden bei Krebs auch noch im Endstadium durchgeführt. Das bringe in manchen Fällen vielleicht eine Chancen auf eine Verlängerung des Lebens um 14 Tage, zugleich sinke vielfach aufgrund der Nebenwirkungen die Lebensqualität massiv. „Wir tun auch Dinge, die für den Patienten nicht sinnvoll sind“, kritisierte der Leiter der größten Palliativstation Deutschlands am Krankenhaus der Barmherzigen Brüder München, anlässlich des IMABE-Symposiums Trauma Krebs: Tun und Lassen in der Medizin, das am 3. Dezember 2015 in Wien stattfand.
Die Palliativmedizin sei weniger krankheitsorientiert, sondern mehr patientenorientiert, erklärte Schlemmer, der diese Grundhaltung für alle Disziplinen empfahl: Jeder Arzt sollte lernen, sich „emotional in das Patientenbett zu legen und sich zu fragen: Wie würde ich das gerne jetzt erfahren?“ Ärzte sollten jedoch auch sich selbst und den eigenen Grenzen gegenüber ehrlich sein: Auf onkologischen und Palliativstationen würden Mediziner über die Jahre hunderte Menschen sterben sehen - wie andere Leute es nur aus dem Krieg kennen. „Das ist extrem belastend.“
Rund 20.000 Menschen sterben allein in Österreich jährlich an Krebs, bei 38.000 Personen wird eine Krebserkrankung diagnostiziert. Mit einer Fünf-Jahres-Überlebensrate von 56,7 Prozent bei Krebspatienten liegt Österreich immerhin im europäischen Spitzenfeld. Da die Ursache einer Krebserkrankung meist unbekannt ist, kämen oft Schuldzuweisungen oder Mythen auf; gleichzeitig würden jedoch auch evidenzbasierte Fakten vernachlässigt, wie etwa die Tatsache, dass Krankheitsverlauf und Überlebensrate stark an sozioökonomische Faktoren gebunden sind. Darauf seien Mediziner in ihren Patientengesprächen nicht vorbereitet, erklärte Alexander Gaiger, Hämatologe und Psychoonkologe am AKH Wien.
Und das Gesundheitssystem sei nicht darauf ausgerichtet, dass Krebs immer häufiger zu einer chronischen Erkrankung wird, die sich über viele Jahre zieht, so Gaiger. Verstärktes Augenmerk auf die Begleitung chronischer kranker Menschen fehle bisher, stattdessen reagiere man mit „more of the same“, nämlich dem Ausbau von teuren, hoch spezialisierten Akutbetten. „Das ist der falsche Weg“, mahnte Gaiger.
Vor falschen Hoffnungen warnte der Wiener Internist und Onkologe Josef Schwarzmeier von der Karl Landsteiner Gesellschaft: Zwar habe die Medizin enorme Fortschritte gemacht, sie könne aber nicht alles heilen, wie manchmal suggeriert werde. Große Herausforderungen stünden hier in der sogenannten „personalisierten“ oder „individualisierten“ Krebstherapie bevor, die auf Genanalysen beruht: Die Methode sei kostspielig und gesicherte Daten über die Erbringung des erhofften Nutzens noch spärlich, wodurch Ärzte in konkreten Entscheidungssituationen vielfach überfordert seien.
Einen andere Form „personalisierter Medizin“ forderte der Allgemeinmediziner Christian Euler, Präsident des Österreichischen Hausärzteverbandes: Patienten wollten „als Personen wahrgenommen werden“ und Begleitung erfahren, welche an erster Stelle durch die Familienmitglieder geschehe, medizinisch jedoch vor allem durch den Hausarzt, der den Patienten, sein soziales Umfeld und seine Krankengeschichte oft schon über Jahrzehnte kennt; er sei das „oft einzige Kontinuum an der Seite des Patienten, der in den Details der Diagnose seiner Krankheit wie verloren ist“, legte Euler dar. Onkologen und Hausärzte sollten mit einer Stimme sprechen: Besonders wenn es um ältere und multimorbide Patienten geht, sei die Rolle des niedergelassenen Allgemeinmediziners als „ortskundiger Begleiter“ durch die oft unübersichtliche Landschaft aus Diagnostik und Therapie zielführend und entlastend.
Die Zusammenarbeit zwischen Hausärzten und den in den Krankenhäusern tätigen Onkologen verbessere sich, dennoch gelte es „Gräben“ zu überwinden, so der Tenor der Experten. „Das geht nur, wenn es eine gegenseitige Haltung der Wertschätzung gibt“, betonte die Radioonkologin Annemarie Schratter-Sehn vom Wiener Sozialmedizinischen Zentrum Süd - Kaiser-Franz-Josef-Spital. Sie trat für eine Kosten-Nutzen-Analyse auch von bereits bewilligten Medikamenten in der Krebstherapie ein.
Das interdisziplinäre Symposium zum Thema Trauma Krebs: Tun und Lassen in der Medizin diskutierte u. a. Möglichkeiten, Grenzen, Kosten und Nutzen der Krebstherapie, sowie Perspektiven der Psychoonkologie und End of Life Care. Veranstaltet wurde es von IMABE in Kooperation mit der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt, der Ärztekammer und der Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft.