In Österreich leben etwa 130.000 demenzkranke Menschen. Der Umgang mit diesen stellt Pflegende, Angehörige und Ärzte vor hohe menschliche und ethische Herausforderungen. Andreas Kruse, Gerontopsychologe und Direktor am Institut für Gerontologie der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg, plädierte für einen neuen Umgang mit der Verletzlichkeit des Menschen. „Die Würde des Menschen ist nicht graduierbar“, betonte Kruse am interdisziplinären Symposium Der Demenzkranke als Mitmensch: Herausforderungen an Pflege und Medizin, das von IMABE veranstaltet wurde und am 18.11.2016 in Wien stattfand. Kruse spricht von den „Inseln des Selbst“ des Demenzkranken: Diese seien keine „entkernten Personen“. Jeder trage seine eigene, sehr persönliche Geschichte in sich. Einen Menschen nur von seinen Pathologien her zu definieren, verstoße gegen die Menschenwürde, betonte der Gerontopsychologe.
Schmerzen werden bei Demenzkranken systematisch unterschätzt und fehl gedeutet, erklärte Angelika Feichtner, Dozentin für Palliative Care an der PMU Salzburg. „Schmerzäußerungen der Demenzkranken - wie zielloses Rufen, Schreien oder Aggression - passen nicht in unser Schema.“ Statt einer Schmerztherapie erhalten sie Psychopharmaka (mit starken Nebenwirkungen) zwecks Ruhigstellung, kritisierte Feichtner. Sie unterstrich die Notwendigkeit einer „systematischen Schmerzerfassung“ sowie Empathie als Schlüsselkompetenz. Studien zeigen, dass eine adäquate Schmerztherapie zu einer signifikanten Reduktion von Agitation und aggressivem Verhalten bei Menschen mit Demenz führt.
Mindestens jeder fünfte Patient, der ins Spital eingeliefert wird, hat die Nebendiagnose Demenz. Allerdings: Weder Ärzte noch Pflegepersonal sind darauf vorbereitet. Auf dieses Problem wies der deutsche Pflegewissenschaftler Michael Isfort vom Deutschen Institut für angewandte Pflegeforschung in Köln hin. „Für Menschen mit Demenz ist das Krankenhaus eine ver-rückte Welt, sie fallen aus dem Rahmen der standardisierten Prozesse.“ In der ungewohnten Umgebung entwickeln sie oft Ängste, versuchen, die Klinik zu verlassen, und können bei Diagnose, Behandlung, Körperpflege nicht mitwirken. „Ihr Zustand verschlechtert sich dann im Krankenhaus“, erläutert Isfort. Hochgerechnet auf alle Krankenhäuser würden in Deutschland pro Jahr rund 2,6 Millionen sedierende Medikamentengaben verabreicht und rund 500.000 „meist unnötige Fixierungen“ vorgenommen. Der Experte zeigte auf, welche Chancen sogenannte demenzsensible Krankenhäuser bieten, die eigene Zimmereinheiten für demenzkranke Patienten eingeführt haben. In ganz Deutschland gibt es rund 20 solcher Special Care Units in Akutkrankenhäusern. Österreich ist in diesem Punkt noch unterversorgt.
Dass das Alter und seine Einschränkungen zunehmend per se als Krankheit definiert würden, hinterfragte der Gießener Soziologe Reimer Gronemeyer. Da eine „Pille gegen die Demenz“ in den kommenden 30 Jahren nicht zu erwarten sei, müsse die soziale Dimension der Demenz ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Menschen mit Demenz dürften nicht nur als Versorgungsfälle gesehen werden: „Wir brauchen eine Kultur, in der es nicht schändlich ist, dement zu sein.“ Positive Entwicklungen seien in Deutschland die bereits 80 bis 90 bestehenden demenzfreundlichen Gemeinden, die zivilgesellschaftlich und ehrenamtlich organisiert sind. Auch in Vorarlberg und einigen Wiener Bezirken starteten ähnliche Initiativen.
Enrique Prat, Ethiker und IMABE-Generalsekretär, unterstrich die tugendethische Dimension im Umgang mit Demenzkranken: Egal in welchem Stadium sie sich befinden, brauchen sie ein Umfeld, das sich auf sie einlässt. Pflege ist keine Einbahnstraße. „Angehörige und Professionelle sind gefragt, sich gegenüber dem Demenzkranken in eine Dynamik des Gebens und Empfangens einzulassen.“
Das interdisziplinäre IMABE-Symposium Der Demenzkranke als Mitmensch: Herausforderungen an Pflege und Medizin fand mit 200 Teilnehmern in der Pensionsversicherungsanstalt statt, weitere Kooperationspartner waren die Österreichische Ärztekammer und die Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft. Die Vorträge des Symposiums sind online nachzuhören, Bestellungen zum Tagungsband I und Tagungsband II sind hier möglich.