Müssen Tierversuche sein? Sind solche Versuche ethisch zu rechtfertigen? Das Verständnis der komplexen Prozesse im Gehirn, die Entschlüsselung der Krebsgenetik und die Entwicklung der neuen Impfstoffe, Medikamente und Behandlungsmethoden, die Leben retten und die Lebensqualität verbessern, wären ohne Tierversuche unmöglich. Zugleich galt es bis Ende des 20. Jahrhunderts als unumstritten, dass das Lebensschutzrecht des Menschen über der Pflicht zum Tierschutz steht. Die Begründung lag in dem wesentlichen Unterschied zwischen Mensch und Tier, der seit Aristoteles durchgehend bis Kant und später z. B. auch von Jürgen Habermas vertreten wurde.
Mit Peter Singers Buch „Animal Liberation“ (1975) wurde der Grundstein zu einer neuen Disziplin gelegt: der sog. Tierethik. In ihr ist der pathozentrische Ansatz vorherrschend: Der moralische Status der Tieres hängt laut Singer mit seiner Leidensfähigkeit zusammen. Darauf stützen sich bis heute radikale Tierversuchsgegner. Der Fall Nikos Logothetis vom Max-Planck-Institut in Tübingen zeigt, dass handfeste Konsequenzen der Debatte weichen, bevor diese noch tiefgehend geführt ist. Der international renommierte Hirnforscher kapitulierte angesichts unzähliger Droh-Emails, Anrufe und monatelanger Beschimpfungen. Logothetis sah sich dem Druck psychisch nicht mehr gewachsen und erklärte, seine weltbekannten wissenschaftlichen Versuche an Rhesusaffen aufzugeben (vgl. FAZ, online, 11.5.2015). In einem offenen Brief wandten sich mehrere Nobelpreisträger an die EU, Versuche an Tieren nicht zu verbieten, wie dies in einer Petition gefordert wird (vgl. FAZ, online 6.5.2015).
Aus aktuellem Anlass behandelt Imago Hominis den Themenschwerpunkt Ethik der Tierversuche.
Rainer Nobiling, selbst Forscher und Tierschutzbeauftragter der Universität Heidelberg, argumentiert in seinem Beitrag, warum Tierversuche weiterhin eine Notwendigkeit für die angewandte wie für die Grundlagenforschung darstellen. Die Tierversuche von heute seien so weit entfernt von vorwissenschaftlicher Tierquälerei, dass eine Neubewertung notwendig sei.
Der Salzburger Philosoph Johannes Rosado geht in seinem Beitrag auf das ontologische Fundament der Tierversuche ein. Der Unterschied zwischen Tier und Mensch sei nicht graduell, sondern wesentlich. Dem Menschen kommt - aufgrund seiner geistigen Vermögen, des Verstandes und des freien Willens - die Aufgabe zu, die Dinge der Natur in ihrem Sein zu achten. Insbesondere hat er mit Rücksicht auf die Hierarchie der Bedeutungen und Sinngehalte das Leben der Menschen zu achten und zu schützen, unter bestimmten Umständen auch durch den Rückgriff auf den Einsatz von Tierversuchen.
Die Wiener Pharmazeutin und Bioethikerin Margit Spatzenegger widmet ihren Beitrag dem Spannungsfeld zwischen Menschenschutz und Tierschutz, in dem sich die Pharmaindustrie befindet. Sie skizziert die zahlreichen Ansätze, die sich in der Praxis herausgebildet haben und rechtlich verankert wurden, um dieses schwierige Dilemma zu lösen.
Zwei Beiträge behandeln die Problematik aus der Perspektive der Tierethik.
Martin Huth und Herwig Grimm (Messerli Forschungsinstitut, Veterinärmedizinische Universität Wien) stellen summarisch die verschiedenen Ansätze dieser neuen Disziplin vor und hinterfragen sie hinsichtlich ihrer Eignung zur Beurteilung der Tierversuche für medizinische Zwecke.
Frank Brosow und Elsa Romfeld (Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Universität Heidelberg) gehen den Kriterien zur Rechtfertigung von Tierversuchen aus der Perspektive der Ansätze der Tierethik nach. Sie kommen zu dem Schluss, dass es schwer ist, allgemeingültige Kriterien für den Einzelfall aufzustellen, und plädieren für kontextsensible Entscheidungen.
Eine Vorschau der Imago-Hominis-Ausgabe 3/2015 mit dem Schwerpunkt Ethik der Tierversuche findet sich hier; das Einzelheft kann um 10 Euro zzgl. Versandkosten bezogen werden.