Leibliche Menschenwürde und die Tugend sie zu achten
Zusammenfassung
Der Zusammenhang zwischen Leiblichkeit und Menschenwürde wurde in der Vergangenheit bereits auf vielerlei Weise untersucht, während vor diesem Hintergrund eine ernsthafte Beschäftigung mit der Tugendethik aussteht. So lag der Akzent bislang auf der Bestimmung des Status der Menschenwürde bzw. auf der Darstellung ihrer zahlreichen Ausprägungen und Anwendungsfelder. Weniger Interesse galt dabei jenen Tugenden, die man gegenüber der Menschenwürde zu erweisen habe, um sie zur Erscheinung zu bringen. Ich möchte in diesem Beitrag daher die Wichtigkeit von Menschenwürde-Tugenden wie Respekt oder Wohlwollen herausstellen und in Beziehung zur Leiblichkeit setzen. Der menschliche Leib ist dabei nicht nur Organ und Zeichen für die Wahrung und Verletzbarkeit personaler Integrität, sondern auch Ort eines Anspruches, von dem aus die Würdeerfahrung anhebt und Tugenden als angemessene Antwortreaktionen auf diesen Anspruch initiiert werden können.
Schlüsselwörter: Menschenwürde, Leib, Tugendethik, Respekt
Abstract
In the past the relationship between corporeality (Leiblichkeit) and human dignity has been investigated in many different ways. Among them we rarely find a virtue ethical interpretation of human dignity. So far, many theories mainly focus on the moral status of human dignity while forgetting that human dignity is first manifested by performing special virtues, such as respect or benevolence. In this paper I would particularly like to highlight the importance of these virtues of human dignity and – in this context – the relevance of corporeality. Therefore, the vulnerable body is an excellent medium to express the basic need for personal integrity. Furthermore, this human body is obviously the best reference for justifying self-regarding and other-regarding acts of virtue – it is the exemplary place where the experience of dignity can take off.
Keywords: Human Dignity, Human Body, Virtue Ethics, Respect, Benevolence
1. Menschenwürde als Rechtsprinzip: Stärken und Schwächen
Der Grund für eine gegenwärtig größtenteils starre Fokussierung auf den Status dessen, was wir mit „Menschenwürde“ bezeichnen, mag zum einen auf dem unerfüllbaren Wunsch nach einer empirischen Fundierung des Begriffes beruhen, zum anderen aber auch an seiner erfahrungsungesättigten Deutung als Rechtsprinzip liegen.1 Letztere Deutung nimmt ihren Ausgang bekanntlich bei Kant, der dem Menschen Würde zuspricht, indem er ihn als „Zweck an sich selbst“ bestimmt und es somit zu verhindern versteht, dem Menschen einer reinen Instrumentalisierung durch Andere auszuliefern. Ursache dieser Sonderstellung ist für Kant die Autonomie, die der Würde der menschlichen Natur den hinreichenden Grund gibt.2 Allerdings setzt diese Bestimmung voraus, dass der Mensch als rein moralisches Vernunftwesen, als homo noumenon, der „über allen Preis erhaben [ist]“,3 gedacht werde. Daraus folgt unter anderem, dass nicht dem „anderen Teil“ des Menschen, dem homo phaenomenon, in erster Linie Achtung gebührt, sondern dem moralischen Menschen, dem es kraft seiner Autonomie zugestanden werden kann, verallgemeinerungsfähige moralische Urteile zu bilden. Diese rigorose Imprägnierung vor äußerlicher „Schädigung“ im Sinne heteronomer Einflussnahme, welche den Möglichkeitsraum für bestimmte Verantwortungsentlastungen einschränkt, und eine damit einhergehende Rehabilitierung des augustinischen homo interior mag inhaltlich freilich viel Verdienstliches hervorbringen, da hinter dieser Idee die Überlegung stehen mag, dass niemand im Stande sei, dem Menschen als moralisches Wesen seine Würde zu nehmen – „Du wirst mich nicht töten“, könnte man hier mit Emmanuel Levinas sagen. Allerdings zeigt die alltägliche Praxis ein anderes Bild. So gibt es immer wieder direkte und indirekte Angriffe auf die Integrität des Menschen, die gerade über seine Leiblichkeit, d. h. über den homo phaenomenon, gezielt vorgenommen werden. Im Falle der Folter kann man schließlich sogar ernsthaft fragen, ob hieran letztlich nicht auch der homo noumenon Schaden davon trägt.4 In diesem Sinne hat deshalb Ernst-Wilhelm Böckenförde zu Recht davon gesprochen, dass die Menschenwürde unantastbar war.5 Der Ausdruck der ‚Unantastbarkeit‘ zeigt hierbei mustergültig, dass man sich von der Menschenwürde ohne Rückbindung an eine Idee der Leiblichkeit überhaupt keinen Begriff machen kann.
Kant, der von der nicht korrumpierbaren Vernunftbegabtheit des Menschen ausgeht, hatte offenkundig ein sehr emphatisches Verständnis von Menschenwürde als Selbstzweckhaftigkeit, obwohl er auch wusste, dass die leibliche Schadenzufügung (z. B. Selbstverstümmelung) nicht direkt in den Geltungsbereich der Selbstzweckformel fällt. Nichtsdestoweniger ist es dieser wichtigen Grundlegung Kants zu verdanken, dass sich der Menschenwürdebegriff, ob nun prozeduralisiert oder nicht, als kategorischer Rechtsbegriff in der Debatte etablieren konnte. Das mit dieser Festlegung verbundene große normative Gewicht hat jedoch angesichts zahlreicher deskriptiver „Anfechtungen“ – vor allem durch die Erkenntnisse der Naturwissenschaften – abgenommen, sodass es umso wichtiger erscheint, der Menschenwürde einen sichtbaren Platz in der Erfahrung zu geben, ohne sich dem objektivierenden Blick der empirischen Wissenschaften preiszugeben.
Stärker als Kant hat daher Fichte den Zusammenhang von gültiger Würde und erfahrbarer Leiblichkeit herausgearbeitet. Johann Gottlieb Fichte ging davon aus, dass „die Gestalt des Menschen dem Menschen notwendig heilig sei“6 und leitete daraus ab, dass aufgrund der Bestimmung dieser Gestalt – „und sei sie nun bloß angedeutet“7 – bereits von denjenigen, die dieser Gestalt begegnen, Respekt abgenötigt werden müsse. Personen sind nicht bloß qua autonome Vernunftwesen zu respektieren, sondern auch und gerade in ihrer organischen Präsenz zu achten.8 Um daher auch man selbst sein zu können – das können wir aus den Überlegungen Kants und Fichtes entnehmen – ist sowohl die vernünftige als auch die natürliche, d. h. leibliche Seite des Menschen in Betracht zu ziehen.9 Leiblichkeit ist deshalb auch ein unbestreitbarer Hinweis darauf, dass der Mensch, selbst wenn er „aus krummen Holz geschnitzt“ sein mag, eine Natur hat; und dass er eine Natur hat bzw. haben kann, ist unveräußerlicher Grund seiner Würde: Menschen sind infolgedessen auch nicht ausschließlich als Freiheitssubjekte zu begreifen, eine Auffassung, die Kant im Fall der „physischen Operation“ der Zeugung, bei der eine Person entsteht, übrigens bestätigt.10
Fichte, der die Schutzwürdigkeit des Menschen aufgrund der Heiligung seiner Gestalt betont, zeigt deutlicher als Kant, dass bestimmte Maßnahmen notwendig sind, um diesen Schutz zu garantieren. Diese Maßnahmen können aber nicht rein rechtlicher Natur, d. h. sich im Rahmen negativer Pflichten bewegen, sondern sie müssen auch in tugendethischer Hinsicht, d. h. vermittels der „Befolgung“ positiver Pflichten, realisierbar sein. Diese prälegislative Einübung der Tugenden, die insbesondere der Erfüllung positiver Pflichten dient, ist dabei vornehmlich präventiv gedacht. Jene Pflichttugenden kompensieren damit aber nicht, was negative Pflichten von sich her ausblenden, sondern sie gehen diesen voraus, indem sie den negativen Pflichten einen Gehalt zuweisen, der mehr als bloß formalgesetzlich zu verstehen ist. Doch was bewegt Menschen letztlich dazu, positiven Pflichten zu folgen, d. h. in deren Schatten tugendhaft zu sein? Angewendet auf die Menschenwürde, die sowohl von ihrem Inhaber als auch von denjenigen, die sich von dieser Qualität ansprechen lassen, Tugenden abverlangt, ist es allenthalben nötig, die leibseelische Integrität uns begegnender Personen zu erkennen und auf diese Präsenz adäquat – d. h. tugendhaft – zu reagieren. Tugenden müssen in diesem Sinne auf den Anspruch der Menschenwürde ausgerichtete Werthaltungen und Antwortreaktionen sein. Die Bestimmung des moralischen Status der Menschenwürde tritt dabei vor der praktischen Notwendigkeit zurück, auf jene uns begegnenden, leiblich verfassten und auf-etwas-aus-seienden Wesen, denen von Natur aus Würde zukommt, mit dem ganzen Vermögen unserer Person zu „reagieren“.11 Angemessene Reaktionen auf diesen Anspruch können allerdings nur dann gelingen, wenn zuvor bereits erkannt wurde, dass reagiert werden muss. Die Phänomenologie liefert uns hierfür übrigens ein ausgereiftes Begriffsinstrumentarium, um beschreiben zu können, wie solche responsiven Haltungen aussehen können. Die Präsenz des Leibes des Anderen, der mir einen bestimmten Umgang mit ihm aufdrängt, ist erster Bezugspunkt für die Ausbildungen von solchen Antwortreaktionen, die wir klassischerweise Tugenden nennen.
2. Leibliche Menschenwürde und die Rolle der Tugenden
2.1. Der menschliche Leib als erstes Bezugsorgan für eine Thematisierung der Würde
Die gegenwärtige Leibphänomenologie hat unter anderem den großen Verdienst, aufgezeigt zu haben, worin die Würde des Leibes, d. h. seine Besonderheit in Gestalt und Konstitution, besteht. So behauptet Natalia Petrillo, dass Menschenwürde „zunächst in einer Ebene leiblicher Integrität zum Vorschein“12 kommt. Im Zentrum phänomenologischer Analysen steht hierbei ein Begriff von Leiblichkeit, der von jener materialen und vergegenständlichten Körperlichkeit unterschieden wird. Ausgehend davon sieht die Phänomenologie im Leib eine genuine Instanz vergegenwärtigt, die durch ihre weltliche Eingewobenheit (Maurice Merleau-Ponty) und subjektive Affizierbarkeit (Michel Henry), ihren Antlitz- (Emmanuel Levinas) und appellativen Charakter (Bernhard Waldenfels) eine originäre ethische Beziehung stiftet, die das damit unvermeidlich konfrontierte Subjekt zu einer Antwortreaktion auffordert. Im Doppelgeschehnis von Anspruch (z. B. Menschenwürde) und Antwort (z. B. Tugend der Achtung etc.) wird deutlich, dass die leibseelische Integrität des Menschen – unter der Voraussetzung, dass sie als eben diese auch anerkannt wird – eine normative Dimension erhält, der in unserem moralischen Handeln Rechnung getragen werden muss. Gerade die Idee einer menschenwürdigen Responsivität, die darin besteht, dem Anspruch der Menschenwürde mit Achtung zu begegnen, verdeutlicht augenscheinlich, worin Fehlformen, d. h. pathologische Missachtungen dieser Würdebeziehung vorliegen. Wo es an Responsivität mangelt – Psychologen sprechen hier unter anderem von fehlender Schwingungsfähigkeit –, dort scheint die ethische Beziehung zum Leib des Anderen und damit auch zu seinem Würdecharakter gestört. Es ist daher auch eine vorrangig therapeutische Aufgabe, diese Würdebeziehung wieder herzustellen und nachhaltig zu pflegen.
Der Heidelberger Psychiater und Phänomenologe Thomas Fuchs hat auf Basis dieser und anderer Überlegungen eine ausführliche phänomenologische Anthropologie der Würde entwickelt, die unsere Ausführungen größtenteils stützt.13 Dabei sieht Fuchs in der Würde einen Ausdruck leiblicher Souveränität, die sich in Gestalt eines Übertrags als personale Souveränität, einem spezifischen Bewusstsein der inneren Freiheit und Unabhängigkeit, bezeichnen lässt. Diese Souveränität und Selbstachtung geht allerdings verloren, wenn sich Menschen durch „würdeloses“ Verhalten auszeichnen,14 d. h. indem sie „kriechen“ oder vor nichts zurückschrecken, das ihren Trieb hemmen könnte.15 Nicht umsonst benutzt man zur Veranschaulichung dieses Würdeverlustes immer wieder leibbezogene Ausdrücke. Unsere Sprache kennt viele solcher Ausdrücke, egal ob sie Fehlformen oder positive Darstellungen, die gewöhnlich unsere Wertschätzung hervorrufen, kennzeichnen. So wird bezüglich letzterem die aufrechte Körperhaltung des Menschen nicht selten mit der charakterlichen Aufrichtigkeit assoziiert oder die ungezwungene Beherrschung des eigenen Körpers mit der Kultivierung der eigenen Person verbunden. Der Ausdruck des Habitus, der den inneren mit dem äußeren Menschen verbindet und das Vermögen für einen kontinuierlichen Reifungsprozess in den persönlichen Einstellungen und Werthaltungen darstellt, hat hier ebenfalls seinen Ort.16
Würde verkörpert sich also und tritt – obwohl empirisch als solche nicht feststellbar – in Erscheinung, vor allem dann, wenn sie sich als verletzbare Würde zu erkennen gibt. Zusammenfassend definiert Fuchs den Leib als „organischen Träger der Würde“ und „Organ der Freiheit“,17 das die gesamte Existenz des Menschen repräsentieren kann. Der Leib wird somit auch zum zentralen Ort der Kultivierung von Tugenden. Menschenwürde ist dabei das reale Prinzip für die mit Hilfe ausgewählter Tugenden einzuübende Anerkennung des leibseelischen Selbstseins von Personen. Denn „nur als leibliche Wesen können wir überhaupt ermessen, was es bedeutet, andere so wie uns selbst zu behandeln.“18 Die Erscheinung des Leibes ist hier, das gilt es festzuhalten, aber nur ein erkenntnistheoretisches Hilfsmittel, um zu zeigen, dass es sich bei leibhaftigen Entitäten um Personen handelt, denen man zwar leibhaftig begegnet, indem sie erscheinen, die aber auch sein können, d.h. Selbststand haben, insofern sie invariante Träger von Eigenschaften sind.19
2.2. Erklärbarkeit der Würde des Menschen aus der Schutzbedürftigkeit seiner Leiblichkeit heraus
Mit Hilfe jener phänomenologischen Überlegungen haben wir gesehen, dass sich Menschenwürde vor dem Hintergrund einer leibseelischen Integrität von Personen manifestiert, deren Anerkennung erst vollzogen werden kann, wenn auch deren Schutzbedürftigkeit herausgestellt wird. Der menschliche Leib ist per se verletzlich, schutzbedürftig, hinfällig, und im Zuge dessen ist auch die mit diesem Leib verbundene Würde bedroht, denn der noumenale Mensch ist vom phänomenalen Menschen nicht zu trennen, schon gar nicht im medizinischen Kontext. Jeder absichtliche Angriff auf die integre Leiblichkeit kann als Angriff auf Würde des angegriffenen Menschen gewertet werden, denn – wie ein oft gewähltes Beispiel verdeutlicht – trifft ein Schlag in meinen Bauch nicht nur einen Körperteil von mir, sondern auch meine ganze Person. Daher sind körperliche Verletzungen und Demütigungen immer Indikatoren für die bedrohte Realität der Menschenwürde: „Die Verletzung der Menschenwürde“, so Gernot Böhme, findet „heute überwiegend am menschlichen Leibe“ statt.20 Menschenwürde wird also insbesondere dann erkennbar, wenn sie verletzt wurde. Das heißt im Umkehrschluss allerdings nicht, dass jede Verletzung, z. B. der frei gewollte medizinische Eingriff in den eigenen Leib anlässlich der Spende eines Organes, eine Verletzung der Menschenwürde darstellt. Auch ist damit nicht gemeint, dass zur Vergewisserung der Existenz von Menschenwürde die Herbeiführung solcher Verletzungen notwendig oder gar erwünscht sei. Die Anerkennung der Menschenwürde basiert ferner auf einer über die Leiblichkeit vermittelte Integrität, welche nicht erst durch den Versuch ihrer Zerstörung entsteht, sondern unabhängig davon bereits in der Präsenz des Leibes selbst besteht und in ihm, diesem Leib, vorbildlich zum Ausdruck kommt. Christus wird zum Beispiel nicht gegeißelt und geknechtet, damit – allen Schändungen zum Trotz – daran seine leibseelische Integrität zum Ausdruck kommen könne, sondern sein geschundener Leib ist vielmehr ein Zeichen dafür, dass der leibliche Schmerz so groß werden kann, dass jede Integrität dadurch aufgebrochen wird. Allerdings ist Christus auch der einzige, der durch sein unübertroffenes Opfer diese Zerstörung letztlich überwindet, ja sogar in Leben verwandeln kann, um schließlich die verlorengegangene Einheit von Mensch und Natur auf einer höheren Ebene zu restituieren.
Unterhalb dieses Anspruches, den größten Schmerz zu besiegen, ist es für den alltäglichen Umgang mit der eigenen und fremden Leiblichkeit aber unerlässlich, bestimmte Schutzmaßnahmen einzuleiten, die bestimmten Instrumentalisierungen zuvorkommen. Diese Maßnahmen sind gegenwärtig zumeist rechtlicher Natur bzw. finden in der Formulierung bestimmter Menschenrechte ihren Ausdruck.21 Ich möchte das Thema der Menschenrechte hier nicht diskutieren, sondern vielmehr auf ethisch-anthropologische Vorbedingungen eingehen, die eine Schutzbedürftigkeit möglicherweise gewährleisten können. Dazu gehört unter anderem die Fähigkeit des Menschen, bestimmte Verhaltensweisen, d. h. Tugenden, einzuüben, die dem Schutz der Würde dienen.
2.3. Die Rolle der Tugenden für die Wahrung und Darstellung der Menschenwürde
Ein altes chinesisches Sprichwort sagt bekanntlich, dass die „Tugend den Leib schmücke“. Auch ist uns die Redensart bekannt, dass der „Leib ein Tempel Gottes“ sei. Es scheint folglich so, als sei die Darstellung dieser Integrität in Form der leibseelischen Einheit, zu deren Wahrung Tugenden notwendig sind, gleichzeitig eine allgemeine Darstellung von so etwas wie Würde. Wie ist dies zu verstehen und welche Rolle spielen dabei die Tugenden?22
In der antiken Ethik, die größtenteils eine Tugendethik ist, war bekanntlich der erste Impuls für die Ausbildung vorbildlicher moralischer Haltungen die Scheu oder Scham. Nun scheint die Scham geradezu disponiert dafür zu sein, um uns eine Grundlage für die angemessene Beschreibung einer wertschätzenden Zuwendung gegenüber dem Faktum der Menschenwürde nahezulegen. Meist geschieht eine Verletzung der Menschenwürde auch aus Gründen der Scham- und Rücksichtslosigkeit, infolgedessen der Mensch (das gilt auch für den schamlosen Akteur selbst) gerade nicht als Selbstzweck betrachtet wird, d. h. sich der Entwürdigung, vor der die Scham eigentlich schützt, preisgibt. Es ist daher erstaunlich, wie wenig bislang über den Zusammenhang von intrinsischer Würde und Tugend nachgedacht wurde.23 Dass die Ausbildung von Tugenden eine Haltung des Respekts vor der leibseelischen Integrität des Anderen verlangt, scheint zwar weitestgehend nachvollziehbar, war in der dazugehörigen Diskussion aufgrund der fehlenden Operationalisierbarkeit des Menschenwürdebegriffes bislang leider noch kein ausdrückliches Thema.24
Wie wir bereits an anderer Stelle angedeutet haben, ist die Menschenwürde keine zuschreibbare empirische Eigenschaft (attribuierte Würde) wie die Tugend, obwohl bei letzterer auch nicht eindeutig gesagt werden kann, ob diese vorliegt oder nicht. Dennoch sind Tugenden als einzuübende Dispositionen im Handeln nachweisbar und vor allem dort notwendig, wo man sich gegenüber Angriffen auf die Menschenwürde zu verteidigen wünscht – das betrifft in erster Linie auch den persönlichen Umgang mit der eigenen Würde, die bekanntlich auch durch ihren Träger selbst bedroht werden kann. Zu einem guten Menschen gehört es also, Tugenden zu besitzen, die ihn dazu disponieren, die Würde anderer anzuerkennen. Selbst Kant musste auf „Tugenden der formalen Autonomie“25 wie Selbstbeherrschtheit, Willensstärke, Souveränität Bezug nehmen, wobei hier die Frage offen bleibt, inwieweit Tugenden überhaupt formal zu verstehen sind. Gerade an der Leiblichkeit wird der materiale Umstand des Tugendgebrauches manifest: Es gibt sowohl Tugenden des Leibes (z. B. der Maßhaltung)26 im Sinne der Pflichten gegenüber sich selbst als auch Tugenden gegenüber anderen menschlichen ‚Leibern‘, deren Anerkennung stellvertretend für die Subjektivität der Würde des Anderen steht. Jede dieser Weisen, sein Tugendhandeln auszurichten, ist dabei mit Verantwortung verbunden, da Akteure eine Verantwortung sowohl gegenüber ihrem eigenen als auch gegenüber dem Leib Anderer besitzen. Kommt jemand dieser Verantwortung grundsätzlich nicht nach, verliert nicht der Andere seine Würde, sondern derjenige, der diese Verantwortung zurückweist. D. h., es gibt einen eminenten Zusammenhang zwischen Menschenwürde als solcher und Tugend im Kontext der Verantwortung.27
Wenn wir nun nach einer Tugend Ausschau halten möchten, die auf Verbindung der leibseelischen Integrität von Personen mit einem intrinsischen Würdebegriff abzielt, der nicht allein auf Autonomie beruht, so können wir z. B. auf Thomas von Aquins Konzept der observantia zurückgreifen. Dieser Ausdruck, der mit Ehrerbietung oder Hochachtung übersetzt werden kann, bezieht sich auf die würdevolle Behandlung von sich als würdig erweisenden Menschen kraft der Anbetung und Verehrung.28 Damit ist die observantia gewissermaßen mit der Gerechtigkeit verbunden,29 da mit ihrer Hilfe einer Person der Respekt erwiesen wird, welcher ihr zusteht. Weiterhin bemerkt Thomas, dass die observantia aus zwei Komponenten besteht, der dulia (Achtung, Respekt) und der obedientia (Gehorsam).30 Mit Hilfe der dulia drücken wir – gemessen am Status der jeweiligen Person – unsere grundsätzliche Wertschätzung aus. Die Tugend der obedientia bezieht sich dabei insbesondere auf den Gehorsam gegenüber denjenigen, die Autorität besitzen.31 Wohlgemerkt ist die dulia von der obedientia zu unterscheiden, weil wir auch Respekt vor denjenigen besitzen können und dürfen, denen wir nicht aufgrund ihrer Autorität gehorchen. Gleichwohl sollten wir nach Thomas jedem und allem gehorchen, weil wir überall etwas finden, das uns überlegen ist und daher unsere Ehrerbietung einzufordern vermag. Natürlich ist hiermit nicht „Kadavergehorsam“, sondern genau das Gegenteil gemeint, weil derjenige, der anerkennt, dass es stets etwas Höheres als ihn selbst gibt (das Prinzip dieses Höheren ist folglich Gott), eigentlich erst ein freier Mensch ist.
Zusammengenommen ist die observantia also eine Tugend, die uns geneigt macht, den besonderen Status oder die Würde einer Person anzuerkennen. Innerhalb dieser Tugend ist es die dulia, die dafür Sorge trägt, jene Hochachtung mit Hilfe von Zeichen und Gesten zur Darstellung zu bringen. Damit – und das ist entscheidend – kennzeichnet Thomas die dulia auch als etwas Leibhaftiges, denn um Respekt erweisen zu können, brauche ich zuvor einen Leib, mit dessen Hilfe ich imstande bin, diese Bekundung zu realisieren.32 Eine weitere Menschenwürde-Tugend besteht schließlich in der Zuerkennung von ‚Seinsmächtigkeit‘. Würde ist bekanntlich auch eine Frage der Haltung, in der sich eine solche ‚Seinsmächtigkeit‘ ausdrückt. Großen und edlen Tieren spricht man bisweilen diese „Würde“ im Sinne einer solchen ‚Seinsmacht‘ zu. Diese anerkennende Haltung gegenüber jener ‚Seinsmächtigkeit‘, die wohlgemerkt über die Haltung des Respektes hinausgeht, verlangt daher auch spezifische Tugenden wie Demut oder Ehrfurcht.33 Demut und Ehrfurcht sind nicht zuletzt genuin pathische Größen und verlangen im Unterschied zur sich mit sich selbst begnügenden Haltung des Respekts eine bestimmte Form der Hingabe und Selbstüberschreitung, die ohne die Erwartung einer Rückforderung vollzogen wird.
3. Menschenwürde – Leiblichkeit – Tugenden: Einige bioethische Implikationen
Nach diesen Überlegungen sei es noch abschließend erlaubt zu fragen, welche Bedeutung die Trias von Menschenwürde – Leib – Tugend überhaupt für bioethische Kontexte haben könnte. Für die Medizinethik ist der Menschenwürdebegriff auch dahingehend relevant, insofern er mit Bezug auf die Leiblichkeit vor allem verdeutlicht, bis wohin eine ärztliche Behandlung gehen kann. Die Vulnerabilität und Hinfälligkeit des Leibes setzt dabei unseren technischen Möglichkeiten eindeutige Grenzen. Die Achtung der Menschenwürde ist aber auch ein Tugendkonzept, das sich gerade auf den medizinethischen Bereich erstrecken muss. Nicht mehr allein die Menschenwürde und ihre Geltung als Prinzip, sondern die Tugend sie zu tun, d. h. die leibseelische Integrität von Personen jederzeit performativ zu achten und zu wahren, stehen im Mittelpunkt. Gerade im intensivmedizinischen Kontext ist diese Haltung von größter Bedeutung, da auf diesem Gebiet, vor allem in Grenzsituationen, der Rückgriff auf verallgemeinerbare Regeln weniger zuträglich erscheint als eine situativ angemessene und auf gesammelten Klugheitserfahrungen basierende kontextsensitive Entscheidungsfähigkeit. Dabei ist gerade die Leiblichkeit des verletzbaren Anderen unhintergehbarer Anlass, um diesem gegenüber tugendhaft, d. h. um seiner selbst willen, zu handeln. Seine Leiblichkeit – darin sich sein Leben, d. h. nicht nur seine Vitalfunktionen, sondern auch seine Biographie, verkörpert – ist für mich auch Anspruch genug zu versuchen, ihm irgendwie gerecht werden zu wollen, ohne es schließlich auch zu können. Es ist daher meine prima-facie-Pflicht, diesem Anspruch, der durch ein Wesen, das auf etwas, das meine unbedingte Achtung verdient, aus ist und aus diesem Grund auch in der Welt ist, zu folgen, selbst auf die Gefahr hin, dass mein Handeln scheitert. Dieses „Schema“ ist übrigens uneingeschränkt dem Prinzip der Lebensdienlichkeit verpflichtet und kann nicht für andere Zwecke, die mit diesem Anspruch konfligieren, missbraucht werden. So ist es beispielsweise keine prima-facie-Pflicht, die künstliche Ernährung einzustellen, nur weil jemand dem schwerstkranken Patienten ‚am nächsten steht‘, das Leid ‚unerträglich‘ erscheint oder die Patientenverfügung diese Handlung legitimiert. Die Erfüllung von sogenannten Prima-facie-Pflichten ist m. E. vor allem dort angebracht, wo Humanität in seiner konkreten Form, seiner jeweiligen Lebensform, angefragt wird. Zur Lebensform gehört deshalb immer auch die Pflicht, ihre daseinsrelativen Ausprägungen anzuerkennen, um so dem absoluten Leben, dem sich jede individuelle Lebensform verdankt, Geltung zu verschaffen.
Einen weiteren Punkt betrifft die klinische Anwendung der Trias von Menschenwürde-Leiblichkeit-Tugend auf integrative Therapien. Integrität ist dabei nicht nur eine persönliche Tugend, sondern stellt ebenso ein zu sicherndes Gut im Kontext des Rechtes auf das Leben und seiner Unversehrtheit dar. Die Sorge um die leibseelische Integrität des Patienten wird damit zum ersten Zielpunkt der Therapie. Damit diese Sorge aber auch gewährleistet werden kann, müssen zuvor einschränkende Faktoren berücksichtigt werden. So wird vielen Betreuungspersonen ein würdevoller Umgang mit Patienten erschwert, weil diese die Kontrolle über ihren Körper, ihr emotionales Leben und ihre mentalen Fähigkeiten verloren haben. Vor allem ältere Menschen neigen infolge dieses Verlustes nicht selten zu harten Beleidigungen oder verschließen sich in sich selbst, was es dem betreuendem Umfeld manchmal schwer macht, den würdevollen Umgang gegenüber dem Patienten mit der gleichen Intensität wie vor der Beleidigung weiterzuführen. Auch spielen hierbei Zeitdruck und ökonomische Faktoren eine entscheidende Rolle, infolgedessen eine umfassende „Sorge um die Seele“ zugunsten von Maßnahmen, die der Aufrechterhaltung basaler Körperfunktionen dienen, abgelöst worden ist. Es scheint folglich kein Zufall zu sein, dass Patienten öfters nur noch im Kontext ihrer Krankheit betrachtet werden und nicht mehr als selbständige „Zwecke an sich“ angesehen werden. Schwerstkranke Patienten werden demnach nicht selten darauf reduziert, was sie noch zu leisten imstande sind. Sie erscheinen somit zunehmend als Objekte anderer Interessen und nicht mehr als Subjekte ihrer eigenen.
Sowohl durch die Krankheit als auch durch die behandelnden Ärzte kann der Patient auf einen Status gebracht werden, dem zufolge er nicht mehr selbst handeln kann, weil „zu seinem Wohl“ über ihn hinweg gehandelt werden muss. Wir können also vermuten, dass Achtung vor der Würde nicht an einem bestimmten Punkt, wo pragmatische Erwägungen ein großes Gewicht bekommen, aufhört. Achtung besteht – wie Thomas von Aquin ausgeführt hat – darin, durch Zeichen und Gesten, also leibhaftig, seinen guten Willen auszudrücken. Dazu gehört trotz gewisser beeinträchtigender Umstände von außen, sich Zeit zu nehmen und jemandem, der krank ist, seine volle Aufmerksamkeit und Zuwendung zu schenken. Allerdings sind wir im heutigen Klinikalltag auch an einen Punkt gekommen, wo die Hinderungsgründe für solch ein Verhalten ein derart großes Gewicht erhalten haben, dass es uns nahezu unmöglich geworden ist, dem Patienten die Zuwendung zu geben, die ihm gebührt. Wohl benötigt man dafür auch immer Eigenschaften, die man sich selbst nicht geben kann, und die Thomas noch der observantia beigesellt, das ist die misercordia, die Barmherzigkeit.34 Die Barmherzigkeit ist es schließlich auch, auf die man nicht verpflichtet werden kann, und die entgegen der Berechnung, für alles Tun auch angemessen belohnt zu werden, die Sorge vollständig auf das Wohl des Anderen richtet, ohne sich einem starren Altruismus zu verschreiben oder allein aufgrund eines universalisierten Mitleides zu handeln. Wohlgemerkt lässt sich die misercordia auch in Begriffen der observantia erläutern, wenngleich sie im Unterschied zur eher distanzierten Form der Ehrerbietung näher an der Person desjenigen, der Barmherzigkeit empfängt, befindet. Barmherzigkeit ist dabei an gute Werke gebunden, kann also – ähnlich wie Demut und Ehrfurcht – auf ein pathisches Moment nicht verzichten.
Eine weitere wichtige Implikation einer tugendbasierten Patientenpflege, die im engen Zusammenhang mit der Würde, die ihm zusteht, ist die Zuversicht, diesem Patienten auf irgendeine Weise Achtung zukommen zu lassen. Diese besteht schon darin, dem Patienten eine Sphäre zuzubilligen, innerhalb derer er Vertrauen und Geborgenheit aufbauen kann. Das beinhaltet sowohl die Wachsamkeit und Bereitschaft zum Gespräch, als auch den Schutz des Patienten vor kognitiver Überbeanspruchung. Die Kultivierung des Respekts innerhalb institutioneller, oftmals anonymer Strukturen, ist somit weiterhin ein großes Anliegen und eine zu bewältigende Aufgabe. Das umschließt nicht nur das Verhalten aller Beteiligten, sondern auch die Gestaltung der Umgebung, die Ausdruck einer Kultur des Respektes sein soll. Die Notwendigkeit eines Aufbaus dieser Kultur zeigt unter anderem, dass der Respekt gegenüber Patienten nicht im Respekt gegenüber deren Autonomie erschöpft ist. Deshalb sollten professionelle Verantwortliche im Gesundheitssystem stets nach Wegen suchen, die aufzeigen, wie Patienten ihrem Sinn für Selbstachtung Ausdruck bzw. Geltung verschaffen können, um ihnen das Gefühl zu vermitteln, dass sie ihre Umwelt noch positiv beeinflussen können. Dazu gehört auch ein wertschätzender Umgang mit dem Leib des Patienten – z. B. ist für den Patienten nicht nur die basale Körperreinigung wichtig, sondern auch ästhetische Aspekte, wie die Pflege des Haares, ordentliche Kleidung, höflicher Umgang und die atmosphärisch ansprechende Gestaltung eines Umfeldes, das den Vollzug leiblicher Praktiken (z. B. Essen etc.) in einer würdigen Form erlaubt, sind für sein Wohl entscheidend. Gerade der damit beförderte Erhalt von Selbstachtung scheint ein guter Widerstand gegen jenen schleichenden Selbstverlust zu sein, der sich beispielsweise bei Demenzpatienten ausdrückt. Gleichwohl ist bei Demenzkranken die Intrinsizität der Würde, die auf der menschlichen Natur beruht, nicht betroffen, da die Aufgabe zur Selbstachtung hier anderen, denen es nun obliegt, ob sie im Angesicht des kranken Menschen ihre eigene Würde behalten, übertragen wurde. Selbstachtung resultiert also ebenfalls aus der menschlichen Natur, zu der es gehört, solidarisch mit sich und anderen umzugehen.
4. Fazit: Menschenwürde ist normativ zu verstehen, ohne damit notwendig ein Rechtsbegriff zu sein
Die eben gemachten Ausführungen sollten zeigen, dass der Menschenwürdebegriff, noch bevor er zum Rechtsprinzip erhoben wird, vor dem Hintergrund der Tugendethik und der Leibphänomenologie normativ zu verstehen ist. Menschenwürde in praktischer Hinsicht kommt damit nicht ohne aretaische Termini aus, denn wie sollen wir anders als mit „dichten Begriffen“ erklären, dass der Menschenwürde ein unbedingt zu achtender Wert, den es nur in Form von entsprechenden Werthaltungen gibt, die als Antwortreaktionen auf diesen absoluten Anspruch zu verstehen sind, zukommt? Menschenwürde am eigenen Leib zu erfahren und selbst für Andere erfahrbar zu machen, ohne sie als empirische Eigenschaft denotieren zu wollen, das soll und kann das Verdienst dieser gedanklichen Annäherungen sein. Der Leib ist dabei „Subjekt der Selbst- und Fremdachtung“, wobei Tugenden notwendige Bedingungen sind, um diese Selbst- und Fremdachtung auszubilden. Zweifelsohne ist die Menschenwürde damit kein vom Recht unabhängiger Terminus. Auch wäre es zu viel verlangt, immer nur von „gelebter Menschenwürde“ zu sprechen. Doch ist ein würdevoll geführtes Leben, zu dem Tugenden notwendigerweise gehören, insbesondere dadurch gekennzeichnet, dass es mit Respekt gegenüber sich und anderen Personen gestaltet wird. Ein menschenwürdiges Leben zu führen, bedeutet somit auch immer ein tugendhaftes Leben zu führen – das gilt für einen selbst, hat aber auch Einfluss auf das Leben derjenigen, die einem nahe stehe. Die nachträgliche Kodifizierung ist hier nur das Ergebnis einer vorgängigen ethischen Praxis des Respekts, die trotz zahlreicher Erschütterungen den Stoff für eine rechtliche Verankerung gibt. Denn woher können und wollen wir wissen, dass es etwas unbedingt zu Achtendes gibt? Wahrscheinlich nur aus unserer persönlichen Erfahrung und aus prägenden Erlebnissen der Selbstwirksamkeit. Dass sich diese subjektiven, sich als wahrheitsfähig ausgebenden Erfahrungen mit der objektiven und kategorischen Geltung eines Prinzips namens Menschenwürde treffen, ist folglich nicht ungewöhnlich, sondern Ziel jedes vernünftigen Umgangs mit schützenswertem Leben. Besser als die Menschenwürde als höchsten Wert zu verkaufen,35 ist daher unser Ansatz, die schutzbedürftige und Personalität begründende Menschenwürde durch Tugenden, die ich ihr gegenüber ausübe, leibhaftig sichtbar werden zu lassen.
Referenzen
- vgl. Hähnel M., Rezension des Buches „Joerden J. C., Hilgendorf E., Thiele F. (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin. Ein interdisziplinäres Handbuch, Duncker & Humblot, Berlin (2013)“, in: Ethica (2014); 22(1): 93-96
- Kant I., Grundlegung der Metaphysik der Sitten, Werke in sechs Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, 7. Auflage, Darmstadt (2011), BA 69
- Kant I., Die Metaphysik der Sitten. Zweiter Teil: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, Werke in sechs Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, 7. Auflage, Darmstadt (2011), A 98 f.
- Würde ist von ihrer leiblichen Seite her gewiss antastbar, von ihrer seelischen Seite her aber nicht bzw. nur schwer zu zerstören: Zwar bekommt der Folterer den Leib des Gefolterten, seine Seele aber erhält er nicht. An diesem Punkt, und nur hier, wird übrigens die ganze Brutalität der Folter deutlich. Der Folterer möchte ja eigentlich gar nicht den Leib, denn diesen hat er ja bereits. Was er begehrt, ist die Seele des Gefolterten.
- Böckenförde E.-W., Die Menschenwürde war unantastbar, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 3. September 2003, S. 33
- Fichte J. G., Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, Stuttgart/ Bad Cannstatt (1966), 2. Hauptstück, §6, Cor. 2, S. 383
- ebd.
- Spaemann R., Grenzen – Zur ethischen Dimension des Handelns, Stuttgart (2002), S. 142: „Personen können nur respektiert werden, indem ihnen eine Sphäre innerhalb der materiellen Welt als die ihnen zugehörige eingeräumt wird. Das Sein von Personen ist das Haben einer solchen Sphäre […] Alles Haben beruht aber darauf, dass Menschen zunächst einen Körper haben. Habeas corpus ist deshalb die fundamentale Formel der Anerkennung von Personen als Freiheitssubjekte. Der Mensch wird primär in der Integrität seiner leiblich Physis respektiert.“ D. h. auch, dass Personen nicht bloße Freiheitssubjekte sind, da wir sie „von ihrer physischen Existenz als der primären Sphäre ihrer Freiheit nicht trennen können.“
- Über die Ausgestaltung dieser Erkenntnis zu einer Anerkennungstheorie: vgl. Rothhaar M., Menschenwürde qua Autonomie und Anerkennung: Kant und Fichte, in: Joerden J. C., Hilgendorf E., Thiele F. (Hrsg.), siehe Ref. 1, S. 73-98
- vgl. Kant I., Die Metaphysik der Sitten. Erster Teil: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Werke in sechs Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, 7. Auflage, Darmstadt (2011), AB 112 f.
- vgl. Hacker-Wright J., Moral Status in Virtue Ethics, in: Philosophy (2007); 3: 449-473. Hacker-Wright bringt diesen Blickwechsel weg von der konstatierenden Statusbestimmung und einer daraus resultierenden normativen Verallgemeinerung hin zur aktiven Statushervorbringung vermöge der Explikation einzelner praktischer Statuserweise, d. h. Tugenden, wie folgt zum Ausdruck: „The legalistic view of moral status, which would have us seek out for harms and benefits of a certain sort in the kinds of creatures who are susceptible to those harms and benefits. I have already enumerated cases for which this view yields unsatisfactory answers. […] Our focus, instead, should be on working out appropriate standards of behavior towards entities our actions affect through reflection on those objects and the virtues.” (ebd., S. 473)
- Petrillo N., Phänomenologische Ansätze zur Menschenwürde, in: Joerden J. C., Hilgendorf E., Thiele F. (Hrsg.), siehe Ref. 1, S. 135-158, hier S. 154
- Fuchs T., Die Würde des menschlichen Leibes, in: Härle W., Vogel B. (Hrsg.), Begründung von Menschenwürde und Menschenrechten, Freiburg (2008), S. 202-219; siehe auch: Pieper H.-J., Menschenwürde und Leiblichkeit. Zur Integrität der Person als leiblich-geistiger Einheit, in: Scheidewege (2004/2005), S. 82-94; Düwell M., Zum moralischen Status des menschlichen Körpers – Eine Diskussion mit der Phänomenologie der Leiblichkeit, in: Taupitz J. (Hrsg.), Kommerzialisierung des menschlichen Körpers, Heidelberg (2007), S. 155-167. Düwell sieht in der Leiblichkeit eine gute Möglichkeit, um den durch diese Leiblichkeit repräsentierten Bereich der Subjektivität vor unzulässigen Eingriffen durch Staat und Naturwissenschaft zu schützen.
- Die „Vernutzung“ des Leibes durch bestimmte Verrichtungen und sportliche Betätigungen besonderer Art ist der Menschenwürde bzw. ihrer Darstellung entgegengesetzt. Der Körper des Menschen ist nicht wie eine Maschine zu behandeln und zu benutzen, vielmehr ist der Leib die Möglichkeit sowohl Inneres nach außen als auch Äußeres nach innen zu bringen. Ohne Leiblichkeit wären bestimmte Formen der Verinnerlichung (die sich in der Physiognomie niederschlägt) und Entäußerung (z. B. in Form von expressiver Dankesgesten) nicht möglich.
- Es kann aber entgegen der Auffassung Kants ein Zeichen von Würde und Demut sein, sich in Anbetungshaltung hinzuknien. Diese schöne Seite der Unterwerfung, die einer spezifischen Würde des Dienens entspricht und nichts mit dumpfer Servilität zu tun hat, war dem Theoretiker der reinen Autonomie Kant höchstwahrscheinlich fremd.
- Nietzsche F., Von der schenkenden Tugend, in: Ders., Also sprach Zarathustra (= KSA 4), München (1999), S. 36, beklagte die Leibentrücktheit des homo phaenomenon, indem er es sich wünschte, dass der Tugend der Leib zurückgegeben werde: „Führt, gleich mir, die verflogene Tugend zur Erde zurück – ja, zurück zu Leib und Leben: daß sie der Erde ihren Sinn gebe, einen Menschen-Sinn!“ Bekanntlich gab es in der Tradition einen deutlichen Bruch zwischen dem ‚inneren‘ und ‚äußeren‘ Menschen. Luther (und später auch Kant), der in diesem Sinne auf den inneren Menschen abhebt, welcher sich nicht durch äußerliche Taten die Gnade Gottes erwirken kann, steht hier am Anfang eines kulturgeschichtlich bedeutsamen Prozesses, sozusagen einer Bifurkation, die den Menschen in der Bestimmung entweder als gesellschaftliches oder als psychisches Wesen zurücklässt: Für den Soziologen ist das Innere des Menschen damit eine „black box“, für den Psychologen ist die Betrachtung des Menschen als eines gesellschaftlichen Wesens demgegenüber eine unnötige Extrapolation.
- Fuchs T., siehe Ref. 13, S. 213
- Schweidler W., Über Menschenwürde. Der Ursprung der Person und die Kultur des Lebens, Wiesbaden (2012), Kap. Der menschliche Leib, S. 115-121, hier S. 120
- Die Idee des Selbstseins kann zum Beispiel im Sinne einer narrativen Identität rekonstruiert werden: Vgl. Ricoeur P., Narrative Identity, in: Philosophy Today (1991); 35(1): 73-80
- Böhme G., Leibsein als Aufgabe. Leibphilosophie in pragmatischer Hinsicht, Kusterdingen (2003), S. 102 f. Über normativ-begriffliche Probleme, die man sich mit einer „leiblichen“ Interpretation des Menschenwürde-Begriffes einhandelt, siehe Horn C., Die verletzbare und die unverletzbare Würde des Menschen – eine Klärung, in: Information Philosophie 3 (2011), S. 30-41
- Menschenrechte beziehen sich ausschließlich auf Rechtspflichten und deren Einhaltung; Menschenwürde, aus der Menschenrechte abgeleitet werden, umfasst aber nicht nur Rechtspflichten, sondern auch die Tugenden, die benötigt werden, damit Menschenwürde erscheinen kann.
- Dunja Jaber bezweifelt in ihrer Dissertation, dass die Tugendethik als eine Ethik der Menschenwürde zu beschreiben sei, obwohl sie auch zugibt, dass „eine Tugendethik menschenfreundliche Tugenden wie Gerechtigkeit, Vertragstreue, Zivilcourage, Sanftmut, Wohltätigkeit, Hilfsbereitschaft, Großzügigkeit, Bescheidenheit, Höflichkeit und dergleichen mehr propagiert.“ (Jaber D., Über den mehrfachen Sinn der Menschenwürde-Garantien. Mit besonderer Berücksichtigung von Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz, Ontos Verlag, Frankfurt am Main [2003], S. 72.) Ihr zufolge würden Tugenden nämlich nicht um willen der anderen vollzogen: „Das Handlungsmotiv der Mitglieder besteht – das folgt aus dem tugendbezogenen Ansatz dieser Moral – in dem Wunsch, den eigenen Charakter zu vervollkommnen. Da die dazu erforderlichen Tugenden soziale sind, werden die jeweils anderen zwar begünstigt. Doch sie werden dies nicht um ihrer selbst willen. Und gerade dieses Fehlen einer Werthaltung der Achtung anderen gegenüber macht einen zögern, ob man von einer Ethik der Menschenwürde sprechen kann.“ (ebd.) Dieser Vorwurf ist allerdings obsolet, da Tugenden auch und vor allem „other-regarding“, d. h. auf das Wohl anderer bezogen sind. Wichtige Arbeiten zur Menschenwürde als Tugend stammen u. a. von Meyer M. J., Dignity, death and modern virtue, in: American Philosophical Quarterly (1995); 32(1): 45-55; Starck C., Dignity as a (Modern) Virtue, in: Kretzmer D., Klein E. (Hrsg.), The Concept of Human Dignity in Human Rights Discourse, Den Haag (2002), S. 195-207
- Wir finden im Handbuch Menschenwürde und moderne Medizin, siehe Ref. 1, dazu keine einzige Erwähnung. Alan Gewirths Ansatz, Menschenwürde als Grundlage generischer Rechte zu betrachten, die Handlungsfähigkeit garantieren, folgt zwar einem tugendethischen Impuls, allerdings sind Tugenden nicht Handlungen, sondern Haltungen, die auf etwas Grundlegenderes als das Recht auf Handlungsfähigkeit zurückgehen – und zwar auf die menschliche Natur.
- Die Bestimmung der Würde im Kontext einer Tugendethik als „inflorescent dignity“ finden wir bei: Sulmasy D. P., Dignity and Bioethics: History, Theory, and Selected Applications, in: Pellegrino E. D. et al., Human Dignity and Bioethics, Notre Dame (2009), S. 469-501
- Wildt A., Recht und Selbstachtung, im Anschluss an die Anerkennungstheorien von Fichte und Hegel, in: Kahlo M. et al. (Hrsg.), Fichtes Lehre vom Rechtsverhältnis, Frankfurt am Main (1992), S. 156-172. hier S. 160
- Dieses Maßhalten wird von Gregor dem Großen wie folgt illustriert: „Wenn wir dem Leibe zuviel schenken, ernähren wir einen Feind; wenn wir ihm aber zu wenig geben oder ihn zu wenig achten, verlieren wir einen Freund.“ (zitiert aus: www.erziehungstrends.net/Psychologie/Alltag/6, letzter Zugriff am 3. März 2014)
- Zur Verantwortlichkeit als Verbindung zwischen Tugend und Menschenwürde siehe: Barila M., Human Dignity, Human Rights, and Responsibility: The New Language of Global Ethics and Biolaw, Cambridge (2012)
- Thomas von Aquin, Summa Theologica, 34 Bde., Graz u. a. (1933 ff.) (kurz: S. th.), II-II, 102, 2
- S. th. II-II, 80
- S. th. II-II, 103 f.
- Das ist strukturanalog mit dem Gehorsam gegenüber der Autonomie von Personen.
- S. th. II-II, 103, 1
- vgl. Scheler M., Zur Rehabilitierung der Tugend, in: Ders., Vom Umsturz der Werte, GW Bd. 3, Bern/München (1955), S. 17-32
- vgl. Alasdair MacIntyres Analysen zur misericordia in: Ders., Die Anerkennung der Abhängigkeit. Über menschliche Tugenden, Berlin (2001)
- Der in diesem Zusammenhang oft verwendete Wertbegriff, der bloß ein Derivat des klassischen Tugendbegriffes darstellt, bestreitet die Inkommensurabilität des Würdebegriffes, wohingegen die Tugenden diesen zu stützen vermögen, insofern sie im Dienste der Selbstdarstellung jener Würde stehen.
Dr. phil. Martin Hähnel
Professur für Bioethik
KU Eichstätt-Ingolstadt
Ostenstraße 26, D-85072 Eichstätt
martinhaehnel(at)gmx.de